Freistetters Formelwelt: Jenseits von Euklid
Diese Formel könnte kaum einfacher sein:
Das bedeutet: Die Linie von A nach B verläuft parallel zur Linie von C nach D – das entsprechende mathematische Symbol zeigt direkt und grafisch, was passiert. Recht viel einfacher kann Geometrie kaum sein. Die Sache mit den parallelen Linien beschäftigt die Mathematik aber schon seit mehr als 2000 Jahren. Sie hat unerwartete Konsequenzen, bis hin zu unserer Wahrnehmung der Welt und der Frage nach der Form des Universums.
Dabei fing die Sache ganz harmlos an. Im 3. Jahrhundert v. Chr. hat der griechische Mathematiker Euklid ein Buch geschrieben, die »Elemente«. Sein durchaus revolutionärer Ansatz bestand darin, das gesamte damalige Wissen über Arithmetik und Geometrie nicht nur zu sammeln, sondern aus wenigen, grundlegenden Postulaten abzuleiten und zu beweisen.
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Fünf Stück davon hat Euklid benötigt, zum Beispiel die Behauptung, dass man von jedem Punkt zu jedem Punkt eine Linie ziehen kann. Eine Aussage, die kaum jemand bestreiten wird und die Euklid für so grundlegend hielt, dass sie ohne Beweis vorausgesetzt werden konnte. Postulate zwei bis vier sind ebenso kurz und eingängig. Doch das fünfte Postulat fällt aus der Reihe. In moderner mathematischer Notation kann man es so formulieren: In einer vorgegebenen Ebene gibt es zu jeder Geraden g und jedem Punkt P außerhalb von g genau eine Gerade, die zu g parallel ist und durch den Punkt P verläuft.
Das ist beim ersten Lesen nicht unbedingt sofort verständlich – und Euklids ursprüngliche Formulierung war noch wesentlich komplizierter. Vor allem aber ist nicht ersichtlich, warum diese Aussage ein Postulat ohne Beweis sein soll. Zu einer Geraden kann man nicht mehr als eine Parallele ziehen, die durch einen vorgegebenen Punkt verläuft, der außerhalb der Geraden liegt. Das klingt eher nach einem Satz, der aus den grundlegenden Postulaten ableitbar sein sollte. Was Euklid auch versucht hat, allerdings erfolglos. Weswegen ihm keine Wahl blieb, als ihn als zusätzliches Postulat zu definieren.
Das Gegenteil ist auch richtig
Im Lauf der Jahrhunderte versuchten Mathematiker immer wieder, den Beweis zu führen, der Euklid misslungen ist. Hinter das Geheimnis der Parallelen kam man allerdings erst im 19. Jahrhundert, als man versuchsweise stattdessen das Gegenteil annahm. Was würde passieren, wenn man davon ausgeht, dass das fünfte Postulat falsch ist? Überraschenderweise zeigte sich: Auch dann kann man damit eine mathematisch konsistente Geometrie konstruieren. Sogar zwei davon, die heute als »elliptische« und »hyperbolische« Geometrie bekannt sind.
Im Gegensatz zur »euklidischen Geometrie«, die flache Räume beschreibt, kommen die beiden anderen Geometrien in gekrümmten Räumen zum Einsatz. Will man beispielsweise auf der Oberfläche der Erde geometrische Messungen anstellen, dann muss man das mit den Formeln der elliptischen Geometrie tun, in der zum Beispiel die Winkelsumme eines Dreiecks größer als 180 Grad sein kann. Ein hyperbolischer Raum ist negativ gekrümmt, wie die Oberfläche eines Sattels.
Wenn es um das Universum in seiner Gesamtheit geht, dann wissen wir heute immer noch nicht, welche Art Geometrie wir benutzen sollen. Ob unser Kosmos sich durch eine flache Geometrie auszeichnet oder durch eine gekrümmte, ist unbekannt. Ebenso, ob es im zweiten Fall eine positive oder eine negative Krümmung wäre. Die bisherigen Daten deuten auf eine flache Geometrie hin, sind aber bei Weitem nicht genau genug, um definitiv zu sein.
Auch die menschliche Wahrnehmung des Raums selbst scheint nicht der euklidischen Geometrie zu folgen. Der Psychologe Walter Blumenfeld hat 1913 in einem Experiment zwei Reihen von Lampen so angeordnet, dass Versuchspersonen sie als parallel wahrgenommen haben. Was nur klappte, wenn die Lampen nicht entlang von parallelen, sondern nur dann, wenn sie an gekrümmten Linien aufgestellt wurden. Kein Wunder, dass Euklid solche Probleme mit den Parallelen hatte.
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