Freistetters Formelwelt: Zahlen seit 5000 Jahren
Werfen wir einmal einen Blick auf diese Formel:
Sie sieht kompliziert aus. Und so etwas in einem modernen Lehrbuch der Mathematik zu finden, würde vermutlich niemanden überraschen. Aber tatsächlich hat die in der Formel beschriebene Rechenvorschrift eine lange Geschichte.
Betrachten wir dazu dieses sehr einfach zu verstehende Problem: Jemand beschäftigt einen Arbeiter 30 Tage lang. Für jeden Tag, an dem auch tatsächlich gearbeitet wird, wird ein Lohn von 6 Pfennig gezahlt. Wird aber gefaulenzt, werden 4 Pfennig pro Tag vom Lohn abgezogen. Am Ende der 30 Tage ist keiner dem anderen etwas schuldig. Wie viele Tage wurde tatsächlich gearbeitet?
Solche Rechenaufgaben sind typisch für Bücher des deutschen Rechenmeisters Adam Riese aus dem 16. Jahrhundert. Darin beschrieb er auch, wie dieses spezielle Problem zu lösen ist. In »Rechenung auff der linihen und federn« (1522) heißt es: »wird angesetzt mit zwei falschen Zahlen, die der Aufgabe entsprechend gründlich überprüft werden sollen in dem Maße, wie es die gesuchte Zahl erfordert. Führen sie zu einem höheren Ergebnis, als es in Wahrheit richtig ist, so bezeichne sie mit dem Zeichen + , plus, bei einem zu kleinen Ergebnis aber beschreibe sie mit dem Zeichen –, minus genannt. Sodann ziehe einen Fehlbetrag vom anderen ab. Was dabei als Rest bleibt, behalte für deinen Teiler. Danach multipliziere über Kreuz jeweils eine falsche Zahl mit dem Fehlbetrag der anderen. Ziehe eins vom anderen ab, und was da als Rest bleibt, teile durch den vorher berechneten Teiler. So kommt die Lösung der Aufgabe heraus. Führt aber eine falsche Zahl zu einem zu großen und die andere zu einem zu kleinen Ergebnis, so addiere die zwei Fehlbeträge. Was dabei herauskommt, ist dein Teiler. Danach multipliziere über Kreuz, addiere und dividiere. So kommt die Lösung der Aufgabe heraus.«
Diese alte Sprache klingt fast noch verwirrender als die mathematische Formel. Es ist aber recht einfach zu verstehen: Adam Riese erklärt, man solle zuerst einfach raten, wie die Lösung aussehen könnte – und zwar zweimal. Beide dieser »falsche Zahlen« überprüft man und sieht nach, wie groß der gemachte Fehler ist. Wenn wir zum Beispiel vermuten, der Arbeiter in unserem Beispiel könnte 10 oder vielleicht auch 15 Tage gearbeitet habe, ergibt sich im ersten Fall ein Fehlbetrag von 20 Pfennig (10x6 – 20x4 = -20). Bei 15 Tagen liegen wir um 30 Pfennig daneben (15x6 – 15x4 = +30). Nun sollen wir, so Ries, »über Kreuz« multiplizieren – also die eine falsche Zahl mit dem Fehlbetrag der anderen und umgekehrt und davon die Summe bilden (10x30 + 15x20 = 600). Das müssen wir durch die Summe der Fehlbeträge dividieren (20 + 30 = 50) und erhalten als Ergebnis 12. Und tatsächlich sind bei einer Arbeitszeit von 12 Tagen der Lohn (12x6 = 72) und der Lohnabzug (18x4 = 72) identisch.
Sowohl die reine Rechenvorschrift von Ries als auch die komplexe moderne Formel beschreiben das gleiche mathematische Verfahren, das »Regula Falsi« (ein einfacher Interpolationsalgorithmus) genannt wird. Natürlich ist Rieses Regel bei Weitem nicht so komplex und auf so viele unterschiedliche Fälle anwendbar wie die moderne Iterationsvorschrift. Aber man sieht daran gut, welch lange Geschichte die Mathematik hat.
Die Methode des doppelt falschen Ansatzes zur Lösung von Problemen können wir schon im 3. Jahrhundert vor unserer Zeit in indischen Schriften lesen. Wir finden sie im China der Zeitenwende ebenso wie im europäischen Mittelalter. Riese, der sich mit seinen auf Deutsch geschriebenen Rechenbücher an eine breite Öffentlichkeit wandte, verbreitete das Wissen weiter. Und heute verwenden wir moderne Formen davon in komplexen Computersimulationen. Gute Mathematik wird nie alt!
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