Freistetters Formelwelt: Sind wir nicht alle ein bisschen CERN?
Wir wissen seit fast 100 Jahren, dass wir irgendetwas übersehen haben. Seither sucht die Wissenschaft die Dunkle Materie. Die Objekte im Universum bewegen sich unter einer stärkeren Gravitationskraft, als allein von der sichtbaren Materie ausgeübt werden kann. Wir vermuten daher die Existenz von »anderer« Materie, die nicht mit der elektromagnetischen Kraft wechselwirkt. Sie strahlt kein Licht aus und absorbiert auch keines. Eigentlich ist sie also nicht dunkel, sondern durchsichtig. Doch wenn sie existiert, können wir ihr dennoch auf die Spur kommen. Es braucht allerdings ein wenig Geduld.
Diese durchaus komplexe Formel beschreibt, wie häufig Teilchen der Dunklen Materie an den Atomen eines Objekts der Masse Mb gestreut werden. Sie stammt aus einem Fachartikel, den Katherine Freese und Christopher Savage im Jahr 2012 veröffentlicht haben. Er trägt den spannenden Titel »Dark Matter collisions with the Human Body« und liefert die Antwort auf eine etwas obskure, aber durchaus berechtigte Frage: Sollten wir uns Sorgen darüber machen, dass das Universum voll mit Materie ist, die wir nicht sehen können und bei der wir auch nicht wissen, worum es sich handelt?
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Aus rein wissenschaftlicher Sicht muss die Antwort natürlich Ja lauten. Die Frage nach der Existenz und der Natur der Dunklen Materie ist von fundamentaler Bedeutung für unser Verständnis des Universums, und es ist definitiv ein Grund zur Sorge, dass wir darauf immer noch keine Antwort haben. Freese und Savage ging es jedoch um etwas anderes. Sie wollten wissen, ob Teilchen der Dunklen Materie mit den Atomen unseres Körpers wechselwirken können und ob das häufig genug vorkommt, um eine Gefahr für uns darzustellen.
Mit Neutrinos ist man niemals allein
Wir kennen Teilchen, die sich so verhalten, wie wir uns die Dunkle Materie vorstellen: Neutrinos. Ihre Existenz wurde 1956 nachgewiesen. Sie sind Elementarteilchen, die nicht über die elektromagnetische Kraft wechselwirken, und können mit anderer Materie nur über die schwache Kernkraft interagieren, deswegen tun sie das auch nur sehr selten. Kein populärwissenschaftlicher Vortrag zu diesem Thema kommt ohne die Information darüber aus, dass in jeder Sekunde ein paar hundert Milliarden Neutrinos durch unseren Körper sausen.
Dabei kommt es aber so gut wie nie zu einer Wechselwirkung zwischen ihnen und den Atomen, aus denen wir bestehen. Selbst über ein gesamtes menschliches Leben gerechnet liegt die Chance auf eine Neutrino-Interaktion nur bei eins zu vier. Deswegen muss man in der Forschung ja so enorme Anstrengungen unternehmen und gigantische Detektoren wie den quadratkilometergroßen »IceCube« in der Antarktis bauen, um wenigstens ein paar der flüchtigen Teilchen nachweisen zu können.
Neutrinos sind also ungefährlich für uns. Wie es bei der Dunklen Materie aussieht, haben Freese und Savage in ihrer Arbeit berechnet und die Wechselwirkungsraten verschiedener potenzieller Arten von Dunkler Materie in Abhängigkeit der unterschiedlichen chemischen Elemente im Körper untersucht. Wir wissen zwar nicht viel über die Dunkle Materie; die Teilchen, aus denen sie besteht, müssen aber eine größere Masse haben als die Neutrinos, sonst hätten wir sie schon längst entdeckt. Je nach Annahme kommt man auf eine Wechselwirkungsrate, die bei zehn Kollisionen zwischen Dunkler Materie und Körperatomen pro Jahr und einer Kollision pro Minute liegt.
Das mag auf den ersten Blick bedrohlich klingen. Im Vergleich mit all den anderen hochenergetischen Teilchen, die ständig aus dem Weltraum und der natürlichen Radioaktivität des irdischen Gesteins auf uns einströmen, ist es allerdings komplett vernachlässigbar. »Harmless to humans« sind die letzten Worte des Fachartikels. Das ist nicht überraschend, denn wäre es anders, dann würde es uns Menschen gar nicht erst geben. Aber zumindest wissen wir genau, wie egal wir der dunklen Materie sind: extrem egal.
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