Freistetters Formelwelt: Falsch ist Ansichtssache
In der Schule war ich schlecht in Mathematik. Im letzten Schuljahr sogar der schlechteste der ganzen Klasse, und ich hatte Glück, dass ich in diesem Fach nicht durchgefallen bin. Das lag einerseits am, wie ich heute weiß, sehr schlechten Unterricht. Aber natürlich auch an mir selbst. Mein Problem war nicht das mangelnde Interesse und auch nicht das fehlende Verständnis. Ich war vor allem schlampig: Ich habe mir zu wenig Zeit genommen, nicht genug über die Aufgaben nachgedacht und daher sehr viele Fehler gemacht.
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Während meines Studiums der Astronomie bin ich in der Mathematik sehr viel besser geworden. Aber Fehler mache ich immer noch. Jeder Mensch macht Fehler; das ist in der Forschung nicht anders als im Rest des Lebens. Wissenschaft braucht daher ständige Überprüfung. Doch auch in der Lehre muss man in der Lage sein, Fehler nicht nur zu erkennen, sondern zu verstehen, wieso sie gemacht worden sind.
Wie steht es zum Beispiel mit dieser Rechnung?
Das Resultat ist zweifellos korrekt, der Weg dorthin allerdings in jedem Zwischenschritt völlig falsch. Die Rechnung stammt aus der im Jahr 2020 veröffentlichten Arbeit »Mathematics teachers' interpretative knowledge of students' errors and non-standard reasoning«, die unter der Leitung von Maria Mellone von der Universität in Neapel durchgeführt wurde. 34 angehende Mathematiklehrerinnen und -lehrer bekamen Aufgaben aus dem Schulunterricht vorgelegt und sollten ausgewählte Rechenwege danach diskutieren.
Was heißt hier »falsch«?
Darunter auch die obige falsch durchgeführte Potenzrechnung mit dem korrekten Resultat. Die Fehler sind eigentlich nicht schwer zu finden. Der erste bestand darin, 1038 zu 10037 umzuformen. Wenn man – richtigerweise – 1038 gleich 10 mal 1037 setzt, kann man das danach nicht einfach zu 10037 zusammenfassen. Das setzt eine Linearität in den Eigenschaften der Potenzrechnung voraus, die dort nicht existiert. Das gleiche Problem existiert im zweiten Rechenschritt, wo die beiden Basen einfach addiert werden, was nicht zulässig ist, und auch im letzten Schritt darf der Faktor 11 nicht einfach herausgezogen werden. Überraschenderweise heben sich die drei einzelnen Fehler gegenseitig auf, so dass am Ende das Resultat wieder korrekt ist. Ebenso überraschend wurde die falsch richtige Lösung von vier Personen in der späteren Diskussion als richtig bewertet.
Ein weiterer in der Studie ausgewählter Lösungsweg bestand darin, die beiden Zahlen einfach ausgeschrieben untereinander zu schreiben, zu addieren und festzustellen, dass im Ergebnis 37 Nullen auf die führende »11« folgen. Ein völlig richtiges Ergebnis mit fehlerfreiem Rechenweg – dennoch wurde es von zwei Personen als falsch angesehen. Die Begründung: Die Rechenregeln zur Potenzrechnung wurden nicht eingesetzt. Und nur neun der Studierenden ließen diesen Lösungsweg ohne Vorbehalte gelten; die anderen hatten zumindest Bedenken, ihn als korrekt zu bewerten, da er nicht verallgemeinerbar sei, bei größeren Potenzen nicht mehr praktikabel und nicht dem vorgesehenen Lösungsweg entspreche.
Diese Studie über das Erkennen von Fehlern zeigt einen wichtigen Aspekt des Umgangs mit Fehlern: Es kommt nicht immer nur darauf an, ob ein Resultat formal richtig oder falsch ist, sondern auch darauf, wie man zu diesem Ergebnis gelangt ist. Eine falsche Rechnung – oder ein fehlerhafter Versuchsaufbau – kann dennoch wichtige Erkenntnisse liefern, genauso, wie ein richtiges Ergebnis wissenschaftlich wertlos sein kann.
Methoden oder Rechenwege, die nicht den »Vorgaben« entsprechen, können der erste Schritt zu einer neuen Entdeckung sein oder genau so eine Entdeckung verhindern. In der Mathematik zählt am Ende das, was hinter dem letzten Gleichheitszeichen steht. Allerdings darf man deswegen das, was davor passiert, nicht einfach ignorieren.
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