Freistetters Formelwelt: Wir Gefangene im Dilemma
In der mathematischen Disziplin der »Spieltheorie« geht es nicht unbedingt darum, wie man bei »Mensch ärgere Dich nicht!« am schnellsten alle Figuren ins Haus bringen kann (obwohl es auch darum gehen kann). Ein »Spiel« im Sinn der Spieltheorie ist vor allem ein mathematisches Modell zur Beschreibung von Prozessen, bei denen die Akteure wechselseitig von ihren Entscheidungen beeinflusst werden. Das klassische Beispiel dafür ist das so genannte Gefangenendilemma: Zwei Menschen werden eines Verbrechens beschuldigt, das man ihnen aber nicht einwandfrei nachweisen kann. Also werden sie getrennt voneinander befragt. Sollten beide weiterhin standhaft alles abstreiten, bekommen sie nur eine geringe Strafe. Gestehen beide, fällt die Strafe auch für beide schwerwiegender aus. Interessant ist der Fall, in dem nur eine der beiden Personen die Tat gesteht. Dieser »Verräter« bekommt dann eine extrem milde Strafe, der weiterhin schweigende Verratene dagegen eine extrem harte.
Mathematisch lässt sich dieses Bild so ausdrücken:
Die Versuchung (T), den anderen Menschen zu verraten, ist größer als die Belohnung (R), die man bekommt, wenn man gemeinsam schweigt. Die wiederum ist größer als die Strafe (P), die man erhält, wenn beide gestehen, die aber immer noch besser ist als das, was einem blüht, wenn man selbst schweigt und vom anderen verraten wird: der »sucker's payoff (S)«, der Lohn für den Dummen.
In der klassischen Formulierung des Gefangenendilemmas wird außerdem noch angenommen, dass der Lohn für beide, wenn sie dichthalten, größer ist als das, was Verräter und Verratener gemeinsam erhalten (2R > T+S). Und zu einem Dilemma wird das Ganze, weil sich die individuelle und kollektive Suche nach der besten Strategie widersprechen.
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Könnten sich die beiden Beschuldigten gemeinsam absprechen, wäre es am besten, wenn sie zusammen schweigen. Betrachtet man das Problem aber aus einer ganz individuellen Sicht, dann scheint es besser, die Tat zu gestehen. Denn dann geht man im besten Fall mit der Mindeststrafe nach Hause. Da die andere Person das aber genauso sieht, gestehen am Ende beide und erhalten eine höhere Strafe als nötig.
Das Gefangenendilemma wurde natürlich nicht deswegen entwickelt, um potenzielle Straftäter bei ihrer Kommunikation mit den Behörden zu unterstützen. Es soll demonstrieren, dass Entscheidungen, die aus individueller Sicht durchaus rational erscheinen, für die Gesamtheit zu schlechteren Ergebnissen führen können. Und solche Situationen findet man in unserem Alltag immer wieder. Zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, ob man sich angesichts der Corona-Pandemie impfen lassen soll oder nicht. Wenn alle Menschen die Impfung verweigern, ist das definitiv das schlechtestmögliche Ergebnis. Sehr viel besser wäre es natürlich, wenn alle sich impfen lassen. Aber für mich persönlich wäre es am besten, alle anderen gehen zur Impfung und ich nicht. Dann spare ich mir die Zeit und die Kosten, die für so einen Termin anfallen, und etwaige Impfreaktionen. Den Schutz vor der Pandemie habe ich ja dank der Herdenimmunität dennoch. Wenn aber alle so denken wie ich, dann landen wir beim unbedingt zu vermeidenden Szenario, in dem niemand eine Impfung will. Zum Glück denken die meisten Menschen nicht so wie dieser fiktive Homo oeconomicus, der nur darauf bedacht ist, den eigenen Nutzen zu maximieren.
In der Klimakrise sehen wir eine weitere Variation des Dilemmas: Sie lässt sich nur durch eine kollektive Anstrengung meistern; wenn einzelne Akteure aber von den nötigen Klimaschutzmaßnahmen abweichen, kann ihnen das unter Umständen große Profite bescheren. Genau deswegen werden heute immer noch Kohlekraftwerke gebaut, wird Öl gefördert oder der Flugverkehr staatlich subventioniert.
Corona oder Klimakrise: In beiden Fällen haben wenige Akteure die Macht, kollektive Anstrengungen zu sabotieren. Die Mathematik kann uns hier zwar helfen, den Ernst der Lage zu verstehen. Aber nicht die Irrationalität der Menschen.
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