Freistetters Formelwelt: König Salomons Kreiszahl
Das erste Buch der Könige berichtet von König Salomon und davon, wie er in Jerusalem einen Tempel baut. Eine Stelle in diesem Abschnitt lautet so: »Und er machte das Meer, gegossen, von einem Rand zum andern zehn Ellen weit, ganz rund und fünf Ellen hoch, und eine Schnur von dreißig Ellen war das Maß ringsherum.« Das »Meer«, um das es hier geht, ist natürlich kein echter Ozean, sondern ein großes Becken aus Metall, das für rituelle Bäder genutzt wurde.
Uns interessiert allerdings nicht die Liturgie, sondern die in diesem Zitat implizit enthaltene mathematische Formel:
Wenn das Becken rund ist, einen Durchmesser von 10 Ellen und einen Umfang von 30 Ellen hat, dann muss die Kreiszahl π sich aus obiger Formel errechnen lassen. Oder anders gesagt: Aus der Bibel folgt, dass π = 3 ist. Das ist ganz offensichtlich falsch; die Kreiszahl ist eine irrationale Zahl. Sie lässt sich nicht durch einen Bruch ganzer Zahlen darstellen, sondern hat unendliche viele nicht periodische Nachkommastellen.
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Es scheint auf den ersten Blick ein wenig müßig, dieser Bibelstelle so viel Bedeutung zuzumessen. Das erste Buch der Könige wurde irgendwann zwischen 600 und 500 v. Chr. verfasst, und da erwartet niemand mathematische Exaktheit. Dass π nicht gleich 3 ist, war bereits den Ägyptern und Babyloniern mehr als 1000 Jahre zuvor bekannt. Sie verwendeten Näherungen, mit denen π sich immerhin auf eine Nachkommastelle genau berechnen ließ (π = 25 / 8 = 3,125). Doch für den alltäglichen Gebrauch nutzte man damals schon die noch simplere Näherung von π = 3.
π und Glaube
Auch in der Bibel wird man das getan haben, und es gäbe keinen Grund, weiter darüber zu diskutieren. Religion ist jedoch ein seltsames Geschäft: Einerseits wurde diese Stelle im Lauf der Zeit immer wieder angeführt, um die »Fehlerhaftigkeit« der Bibel zu belegen. Andererseits haben sich die Anhänger der Religion überraschend viel Mühe gegeben, die »falsche« Berechnung von π irgendwie zu rechtfertigen.
Vor allem in der rabbinischen Literatur des Judentums hat man sich damit immer wieder beschäftigt. Die einfachste Auflösung des Konflikts zwischen Bibel und Mathematik besagt, dass der Durchmesser des Beckens an der Außenseite gemessen wurde, der Umfang aber an der Innenseite. Und da der Rand nicht unendlich dünn ist, kommt es eben zu Abweichungen.
In seinem Kommentar zu »Mischna«, den gesammelten Überlieferungen und Gesetzen des Judentums, schreibt der berühmte mittelalterliche Gelehrte Moses Maimonides den erstaunlichen Satz: »Du musst wissen, dass das Verhältnis von Durchmesser zu Umfang eines Kreises nicht bekannt ist, und es ist auch unmöglich, es exakt auszudrücken.«
Eine bemerkenswerte Einsicht für das 12. Jahrhundert; der mathematisch strenge Beweis der Irrationalität von π wurde erst sechs Jahrhunderte später von Johann Heinrich Lambert geführt. Maimonides führt weiter aus, dass die Kreiszahl immer nur näherungsweise bekannt ist; dass die gebildeten Menschen selbstverständlich genauere Werte kennen, für die religiösen Gesetze aber die einfache Rundung auf die nächste ganze Zahl, also π = 3, verwendet wird.
Anderen Gelehrten fiel auf, dass das hebräische Wort für »Linie« im Bibeltext anders geschrieben wird, als man es ausspricht. Folgt man der Tradition der »Gematria«, bei der Wörter durch Zahlen ausgedrückt werden können, und bildet das Verhältnis der durch die beiden Varianten des Wortes verschlüsselten Zahlen, ergibt sich 111/106. Multipliziert mit 3 lautet das Ergebnis 3,1415094…, und π ist somit auf immerhin vier Nachkommastellen korrekt dargestellt.
Mit ein wenig Kreativität lassen sich vermutlich noch andere Wege finden, die »falsche« Zahl aus der Bibel zu rechtfertigen. Ob damit aus religiöser Sicht viel gewonnen ist, bleibt zweifelhaft. Man soll religiöse Texte nicht wörtlich interpretieren. Fundamentalismus hilft auch in der Mathematik nicht weiter.
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