Freistetters Formelwelt: Warum der Mond schwer zu berechnen ist
Am 3. Januar 2019 landete erstmals eine Raumsonde auf der Rückseite des Mondes. Dass unser Trabant überhaupt eine »Rückseite« haben kann – also eine Hemisphäre, welche wir von der Erde aus nie sehen –, ist ein faszinierendes astronomisches Phänomen. Grund dafür ist die Gezeitenkraft, die die Erde auf ihren Begleiter ausübt. Dadurch wurde im Lauf der Zeit die Rotation des Mondes um seine Achse so weit abgebremst, dass sie genau so lange dauert wie der Umlauf des Mondes um die Erde.
Das Resultat: Der Mond zeigt uns immer die gleiche Seite, und die Rückseite bleibt unsichtbar. Astronomen bezeichnen dies als eine gebundene Rotation, und man kann sich fragen, wie lange es eigentlich gedauert hat, bis dieser Zustand nach der Entstehung des Mondes erreicht war. Die Antwort gibt diese mathematische Formel:
Allerdings ist dies keine sehr hilfreiche Antwort. Um den Wert für die Dauer t zu berechnen, muss man zum Beispiel wissen, wie gut der Mond die Energie der Gezeitenkraft umwandeln und verteilen kann (beschrieben durch den Parameter Q). Wir müssen wissen, wie das Mondgestein auf durch die Gezeiten verursachte Verformungen reagiert (beschrieben durch k2), und beide Zahlen sind schwer zu bestimmen – selbst für den Mond und für andere Himmelskörper so gut wie gar nicht. Das Trägheitsmoment I, die Masse des Planeten mP, der Radius R des Mondes, die Gravitationskonstante G, der mittlere Abstand des Mondes von der Erde a und die ursprüngliche Rate der Rotation ω sind leichter zu bestimmen – aber selbst wenn man all diese Werte exakt kennen würde, wäre das Ergebnis immer noch eine Näherung.
Der Mond ist einfach zu komplex. In vielen Fällen reicht es, wenn man unseren Nachbarn im All einfach nur als punktförmige Masse betrachtet – zum Beispiel wenn man wissen will, wie er sich unter dem Einfluss der anderen Himmelskörper durchs Sonnensystem bewegt. Aber wenn es um die Rotation geht und um den Einfluss der Gezeitenkraft, dann reicht diese simple Näherung nicht mehr aus. Dann muss man berücksichtigen, dass der Mond ein dreidimensionales Objekt ist: eine Kugel (und selbst das ist schon zu ungenau), die aus bestimmten Gesteinen und Metallen mit jeweils unterschiedlichen physikalischen Eigenschaften besteht. Wir müssten exakt wissen, wie der Mond aufgebaut ist; von der Oberfläche bis zu seinem Kern. Wir müssten wissen, wie die unterschiedlichen Gesteine des Mondes verteilt sind und wie sie jeweils auf die Gezeitenkraft der Erde reagieren. Die Erde selbst müssten wir genau genommen ebenso komplex beschreiben – und so weiter.
Nur weil wir im Prinzip wissen, was theoretisch alles eine Rolle spielt, um die Veränderung in der Rotation des Mondes zu beschreiben, folgt daraus noch nicht, dass wir auch in der Lage sind, all das auch konkret in eine mathematische Formel zu fassen. Und wenn wir es schaffen würden, wäre diese Formel so enorm komplex, dass wir sie wahrscheinlich nicht lösen können.
Schon die oben angegebene vereinfachte Formel offenbart, welche Schwierigkeiten es uns macht. Der Radius des Mondes geht mit der fünften Potenz in das Ergebnis ein, der Abstand zwischen Erde und Mond sogar mit der sechsten Potenz. Kleinste Ungenauigkeiten könnten hier zu großen Variationen beim Ergebnis der Formel führen!
Die Formel zeigt uns, was für ein komplexer Himmelskörper der Mond ist. Wir können ihn nicht mit ein paar simplen Zahlen und mathematischen Symbolen beschreiben. Und es reicht auch nicht, ein paar Mal an weit verstreuten Punkten auf seiner Oberfläche zu landen, um diese komplizierte Welt zu verstehen. Chang'e 4 war der erste Schritt auf die noch komplett unbesuchte Hälfte des Mondes. Es werden noch viele folgen müssen.
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