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Freistetters Formelwelt: Voronoi-Regionen und die Cholera

Mathematik macht verwirrende Phänomene verständlich. Das reicht vom Ausbruch einer Seuche bis hin zu einem Fußballspiel. Man muss nur die richtige Formel kennen.
Voronoi-Regionen als unterschiedlich stark herausgehobene blaue Blöcke.

Bei Recherchen zu einem völlig anderem Thema bin ich kürzlich auf eine Abhandlung mit dem schönen Titel »Mathematics make microbes beautiful, beneficial, and bountiful« gestoßen. Nicht dass man mich noch extra davon überzeugen müsste, dass Mathematik alles viel schöner macht. Aber ich wollte dann doch wissen, wie das im konkreten Fall bei den Mikroben aussieht.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Die Arbeit von John Jungck von der University of Delaware listet jede Menge mathematische Methoden auf, mit denen sich mikrobiologische Phänomene besser verstehen lassen: von der Nutzung fraktaler Dimensionen und der Beschreibung des Wachstums von Bakterien über die Verwendung boolescher Logik für das Verständnis des Laktose-Abbaus bis hin zu strömungsmechanischen Modellen, mit denen die Fortbewegung von Mikroorganismen im Wasser besser zu untersuchen ist. Am spannendsten fand ich allerdings ein Diagramm, das auf folgender Formel basiert:

Was hier durch komplexe Symbole beschrieben wird, lässt sich auch in normaler Sprache einfach fassen. Es geht um so genannte »Voronoi-Regionen«: Dazu definiert man bestimmte Punkte Pk im zweidimensionalen Raum, die »Zentren«. Die zu einem Zentrum Pk gehörende Voronoi-Region Vk besteht nun aus allen Punkten der zweidimensionalen Ebene, die diesem Zentrum näher sind als irgendeinem anderen Zentrum.

Das klingt sehr abstrakt, fand aber im 19. Jahrhundert einen sehr konkreten Anwendungsfall. 1854 kam es in London zu einem Ausbruch der Cholera. Damals war noch unklar, was diese Krankheit verursacht. Sie würde durch »Miasmen«, also irgendwie geartete schlechte Dämpfe verbreitet, lautete die vorherrschende Meinung. Dass tatsächlich ein Bakterium dafür verantwortlich ist, sollte erst später eindeutig nachgewiesen werden.

Cluster in der Voronoi-Region

Der britische Mediziner John Snow war jedoch schon damals überzeugt, dass die Krankheit durch irgendeine Verunreinigung im Trinkwasser verursacht wird. Einen ganz besonders heftigen Ausbruch der Cholera im Stadtviertel Soho untersuchte er daher auf eine spezielle Weise. Auf einer Karte markierte er zuerst die Positionen aller öffentlichen Wasserpumpen und dann die Bereiche um jede Pumpe herum, für die diese Pumpe die jeweils nächstgelegene war, also das, was wir heute Voronoi-Regionen nennen würden.

Schließlich notierte Snow auch die Positionen der Häuser, in denen Menschen an Cholera starben. So stellte er fest: Es gab einen klaren Cluster in der zur Pumpe in der Broad Street gehörenden Voronoi-Region. Das Wasser dort musste offensichtlich die krankheitsverursachende Verunreinigung enthalten, schloss Snow und überzeugte die Behörden, diesen Brunnen stillzulegen. Dadurch wurde der Cholera-Ausbruch in London zwar nicht beendet; die Todesfälle in Soho nahmen aber rapide ab.

Mathematisch untersucht wurden Voronoi-Diagramme im 19. und 20. Jahrhundert von unterschiedlichen Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen, unter anderem vom Russen Georgi Feodosjewitsch Woronoi, nach dem sie benannt wurden (obwohl auch andere Bezeichnungen geläufig sind). Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig: Man verwendet sie zum Beispiel, um das taktische Verhalten von Fußballteams zu untersuchen und zu bestimmen, wer welche Räume am Spielfeld kontrolliert.

Es lassen sich damit auch Kunstwerke analysieren oder die Wachstumsmuster von Baumwipfeln. In der Stadtplanung kann man öffentliche Einrichtungen mit Hilfe von Voronoi-Diagrammen optimal positionieren oder Roboter dazu bringen, immer genau den Weg zu finden, der am weitesten von irgendwelchen Hindernissen entfernt ist. Mathematik macht eben nicht nur Mikroben besser, sondern auch alles andere.

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