Freistetters Formelwelt: Was sind Zahlen?
Steigen wir doch ausnahmsweise einmal direkt mit einer Zahl ein!
Was ist das für eine Zahl – und was soll das? In dieser Formel wird nichts anderes beschrieben als die Wurzel aus 2, und zwar in Form des »dedekindschen Schnitts«. Diese Technik ist nach ihrem Erfinder benannt, dem deutschen Mathematiker Richard Dedekind. Er hat sich im 19. Jahrhundert intensiv mit der Frage nach der Natur der Zahlen beschäftigt und 1888 auch ein Buch mit dem Titel verfasst: »Was sind und was sollen die Zahlen?«
»Die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, sie dienen als Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen«, schrieb er darin, und das ist noch einigermaßen nachzuvollziehen. Es gibt einen klar erkennbaren Unterschied zwischen drei Äpfeln und vier Äpfeln, und wir benutzen die Zahlen 3 und 4, um ihn aufzuzeigen. Ein wenig abstrakter ist da schon der Gedankengang, dass zwischen drei Äpfeln und drei Flugzeugträgern zwar ein massiver Unterschied besteht, es sich aber trotzdem um jeweils drei Objekte handelt. Eine Zahl wie die 3 muss also nicht konkrete Mengen von Dingen beschreiben, sondern nur eine abstrakte »Dreiheit«, die je nach Bedarf angewendet werden kann.
Wirklich schwierig wird es dann bei Zahlen, die nicht mehr so einfach konstruiert werden können. Die rationalen Zahlen, also die Zahlen, die als Brüche ganzer Zahlen aufgeschrieben werden können, lassen sich noch einigermaßen gut anschaulich vorstellen. Doch wie ist es bei den irrationalen Zahlen, wie etwa der Wurzel aus 2? Dass man hier Probleme mit der Anschaulichkeit bekommt, zeigt schon die Erkenntnis von Georg Cantor, dass die reellen Zahlen (also die Menge aller rationalen und irrationalen Zahlen) nicht mehr abzählbar sind. Oder anders gesagt: Es gibt »mehr als unendlich« viele von ihnen. Es ist unmöglich, sie alle in einer Liste anzuordnen und dann der Reihe nach abzuzählen (wie es bei den natürlichen oder rationalen Zahlen der Fall ist).
Richard Dedekind aber fand einen Weg, wie man die noch anschaulichen rationalen Zahlen benutzen kann, um daraus die reellen Zahlen zu konstruieren. Die Details sind komplex. Vereinfacht gesagt läuft es darauf hinaus, dass man die Menge der rationalen Zahlen (in der Formel oben mit ℚ bezeichnet) in zwei Teilmengen A und B teilt (die beide jedoch unendlich viele Elemente haben). Jede Zahl in A muss dabei kleiner sein als jede Zahl in B. Die Teilmenge A darf kein größtes Element haben, das heißt, für jede beliebige Zahl in A muss man eine weitere finden können, die größer ist. Die Teilmenge B kann eine kleinste Zahl beinhalten, muss aber nicht. Ein dedekindscher Schnitt entspricht so der »Grenze« zwischen diesen beiden Teilmengen. A enthält dann jede rationale Zahl, die kleiner ist als der dedekindsche Schnitt; die Menge B jede rationale Zahl, die größer als der Schnitt ist oder gleich. Hat die Menge B eine kleinste Zahl, dann entspricht der Schnitt genau dieser rationalen Zahl. Hat B keine kleinste Zahl, dann gibt es – salopp gesagt – eine »Lücke« zwischen A und B, und der dedekindsche Schnitt entspricht einer irrationalen Zahl, die genau in dieser Lücke liegt.
In der obigen Formel ist genau das der Fall, und der dedekindsche Schnitt definiert so die irrationale Wurzel aus 2. Jede reelle Zahl – egal ob rational oder nicht – kann so genau einem dedekindschen Schnitt zugeordnet werden.
Das alles ist natürlich weit entfernt von der Anschaulichkeit der drei Äpfel. Aber wenn man Zahlen wirklich logisch und von Grund auf verstehen will, dann reichen unsere Alltagsvorstellungen nicht mehr aus. Zahlen sind komplexer, als uns – und manchmal selbst den Mathematikern – lieb ist.
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