Freistetters Formelwelt: Wie man hyperräumlich denkt
Wissenschaft ist manchmal ungerecht. Man hat einen inspirierenden Gedanken oder macht eine tolle Entdeckung, nur um dann festzustellen, dass man sich das Entdeckte nicht vernünftig vorstellen kann. Nehmen wir als Beispiel einen Würfel. Der ist einfach, den muss man sich auch nicht vorstellen: Man kann ihn anschauen, sofern man einen zur Hand hat.
Aber was stellt man mit einem Tesserakt an? Dabei handelt es sich um einen »Hyperwürfel« in vier Dimensionen. Rein mathematisch kann man so ein Ding problemlos in eine Formel fassen:
Dieser Ausdruck beschreibt die Menge aller Punkte im vierdimensionalen Raum, die zusammengenommen dort einen »Einheitswürfel« bilden. Diese Definition ist identisch mit der des »normalen« Würfels. Man lässt einfach x4 weg und betrachtet ℝ3 statt ℝ4. Aber so sehr wir uns auch anstrengen – wir sind nicht in der Lage, einen vierdimensionalen Würfel zu visualisieren.
Man kann es mit folgender Strategie probieren: Zuerst nimmt man einen nulldimensionalen Punkt. Wenn man ihn bewegt und seine Spur aufzeichnet, erhält man eine eindimensionale Linie. Verschiebt man diese Linie in der Ebene um eine Distanz, die ihrer Länge entspricht, entsteht ein Quadrat. Das können wir nun ein weiteres Mal im rechten Winkel auf die Ebene im Raum verschieben und erhalten einen Würfel. Damit daraus ein vierdimensionaler Tesserakt entsteht, müssen wir den Würfel jetzt in die Richtung verschieben, die im rechten Winkel zu allen drei bisherigen Dimensionen steht.
Das Bewusstsein in die vierte Dimension heben
Nur: Wo soll die sein? Sie existiert in der mathematischen Abstraktion; dort kann man so eine Richtung einfach definieren und dann damit arbeiten. Doch kann man sich das Ganze auch anschaulich vorstellen? Man kann es zumindest probieren, dachte sich der britische Mathematiker Charles Howard Hinton im 19. Jahrhundert und schrieb seinen Artikel »What is the Fourth Dimension?«. Er prägte nicht nur das Wort »Tesserakt« für den vierdimensionalen Hyperwürfel, sondern auch die Begriffe »kata« und »ana« für die Bewegung entlang der unvorstellbaren neuen Richtung.
Außerdem entwickelte er ein System aus jeder Menge kleiner Würfel, um damit – wie er meinte – den Geist und die Vorstellungskraft so zu trainieren, dass man am Ende einen Tesserakt tatsächlich visualisieren kann. Genau so, wie die Flächen, die einen normalen Würfel begrenzen, zweidimensionale Quadrate sind, wird ein Tesserakt durch dreidimensionale Würfel begrenzt.
Hinton stellte sich den Hyperwürfel nun aus vielen kleinen Tesserakten zusammengesetzt vor, die wiederum von kleinen normalen Würfeln begrenzt sind. Zudem untersuchte er, welche Färbung diese Würfel hätten, wenn sie aus den vier Richtungen des 4-D-Raums mit Licht unterschiedlicher Farbe angestrahlt würden. Entsprechend wurden die kleinen Würfel angemalt. Ob das wirklich dabei geholfen hat, ein vernünftiges geistiges Bild eines Tesserakts zu bekommen, bleibt jedoch fraglich.
Sein Versuch, die vierte Dimension zu visualisieren, hat aber zumindest Literatur, Kunst und Esoterik beeinflusst. Hinton war selbst Anhänger der okkultistischen Lehre der »Theosophie«, und seine Arbeit inspirierte so unterschiedliche Menschen wie Aleister Crowley oder Jorge Luis Borges. In der Sciencefiction – die Hinton auch selbst verfasste – tauchen Tesserakte in diversen Variationen bis heute auf.
Es ist schon ein wenig absurd: Unser Gehirn ist in der Lage, sich etwas auszudenken, was das gleiche Gehirn sich nicht vorstellen kann. Trotz aller Schwierigkeiten wollen wir jedoch den Versuch nicht aufgeben, uns diese unvorstellbaren Phänomene irgendwie vorzustellen. Und wer weiß: Vielleicht klappt es ja irgendwann.
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