Paläogenomik: Für einen weisen Umgang mit alten Relikten
Seit einem Jahrzehnt boomt Forschung, die alte menschliche Populationen und unsere ausgestorbenen Vorfahren in den Blick nimmt: Immer kostengünstiger wird die Analyse von altem Genmaterial mit immer leistungsfähigeren Sequenziertechniken. Es ist gerade erst neun Jahre her, als die teilweise Sequenzierung eines Neandertaler-Genoms als große wissenschaftliche Leistung gefeiert wurde. Heute arbeiten Forscher in einem gerne schon als »fabrikmäßig« wahrgenommenen Ansatz an der Analyse alter DNA und verarbeiten dabei Hunderte von Proben.
Das hat uns unter anderem viel besser verstehen lassen, welche menschlichen Populationen sich mit den Neandertalern vermischten und welche nicht; wie sich die Menschen während der Bronzezeit über Europa verteilten; und wie sich der Weidewirtschaft in Afrika entwickelte.
Der Fortschritt hat allerdings seinen Preis. So lässt es sich bei der Extraktion von DNA hoher Qualität aus alten Überresten kaum vermeiden, die Proben teilweise zu zerstören. Und sobald Knochen, Zähne, Haare und so weiter zu Staub gemahlen sind, ist die Chance dahin, damit auch später einmal unser Verständnis der Vergangenheit zu bereichern.
Zudem sehen wir das enorme Potenzial alter DNA für die Aufklärung der Menschheitsgeschichte. Tatsächlich planen unsere Arbeitsgruppen selbst gerade eine Genomstudie: Wir möchten die Überreste von Männern und Frauen untersuchen, die vor Hunderten bis Tausenden von Jahren auf Hawaii gelebt haben, um herauszufinden, wie die Ankunft von Lepra, Pocken, Syphilis und anderen Krankheitserregern mit europäischen Kolonialisten im 18. Jahrhundert das Genom der heute lebenden Bevölkerung auf Hawaii geprägt hat. Es verdient, meinen wir, Anerkennung, dass einige wissenschaftlich führende Labors daran arbeiten, die Probenentnahme möglichst zerstörungsarm durchzuführen – etwa indem sie Techniken entwickeln, die es ermöglichen, alte DNA-Sequenzen und Radiokohlenstoffdaten aus ein und derselben Probe zu gewinnen statt aus mehreren.
Stellen wir uns den Ungerechtigkeiten der Genomforschung
Allerdings machen wir uns zunehmend Sorgen. Nach unserem Kenntnisstand hat derzeit niemand eine vollständige Liste all der bereits analysierten Proben alter DNA von Menschen und Menschenverwandten, die vor Hunderten bis vor Zehntausenden von Jahren gelebt haben. Niemand überwacht, ob die erhobenen Daten in den verschiedenen Labors so gesichert wurden, dass auch andere Kollegen darauf zugreifen könnten. Und niemand hat offenbar einen Überblick darüber, wie viele zur Analyse tauglichen Proben insgesamt eigentlich noch verfügbar sind.
Bei den derzeit ständig wachsenden Kapazitäten zur DNA-Analyse sollten sich die verschiedenen beteiligten Akteure dringend austauschen: Archäologen, Molekularbiologen und Bioinformatiker, Redakteure und Journalisten, Museumskuratoren – und die Nachkommen der untersuchten Populationen. Sie alle müssen darin übereinkommen, wie das Streben nach Forschererkenntnissen und der Schutz von kulturellen Relikten in Zukunft langfristig ausbalanciert werden kann.
Wir sollten einige Grundregeln festlegen, um nicht Gefahr zu laufen, dass spätere Generationen von Wissenschaftlern (mit besseren, vielleicht weniger invasiven Methoden) auf unsere Zeit als eine der rücksichtslosen Zerstörung zurückblicken – eine Ära, die durch die unerbittliche Hatz nach raschen Veröffentlichungen angefeuert wurde, getrieben vom »heftigen Angstdrang nach Entdeckungen«, den ein Anthropologe kürzlich beschrieben hat.
Wie schlimm ist es?
In den letzten zehn Jahren gab es enorme Erfolge: im Bildungsbereich und auch beim Engagement, ein breiteres Spektrum von Menschen im Zuge von Genomforschungsprojekten beratend einzubeziehen. Gehör finden nun etwa die Interessen und Verantwortlichkeiten von Nachkommen der im Forschungsinteresse stehenden alten Kulturkreise. Seit 2011 hilft ein wachsendes Konsortium von Genomforschern in Nordamerika, Hawaii, Finnland, Neuseeland und Australien dabei, Ausbildungsprogramme für Menschen aus indigenen Volksgruppen durchzuführen. Dabei werden die Teilnehmer über die Methodik der DNA-Sequenzierung sowie über Nutzen und Missbrauchsmöglichkeiten der Analyse alter und heutiger Genome informiert.
Und doch: Nach wie vor fallen bei Probenahmen alter Funde Entscheidungen, deren Folgen unwiderrufbar sind – geleitet nur von den gerade aktuellen Forschungsinteressen einiger weniger. Ein Beispiel: Viele Forscher konzentrierten sich bei der Entnahme von Proben aus dem menschlichen Schädel auf das Felsenbein, jenen harten Teil des Schläfenbeins an der Schädelbasis, der die komplizierten Strukturen des Innenohrs beherbergt. Dieser stabile Knochen enthält endogene DNA in hoher Konzentration. Dabei bohrten unterschiedliche Teams Hunderte von Strukturen auf und extrahierten DNA, ohne die Schädel vorher durch Fotos oder mit Scanning-Techniken wie der Mikrocomputertomografie (MicroCT) morphologisch zu dokumentieren, wie ein Team von Innenohrstruktur-Forschern 2018 bemängelte.
Nahe dem Felsenbein finden wir potenziell informative Biomoleküle wie Protein- oder Lipidbiomarker in einer womöglich einzigartig hohen Konzentration. Dort sind allerdings auch die Strukturen des Innenohrs einschließlich Bogengängen und Cochlea beheimatet, und ihre intakten Knochenstrukturen liefern gegebenenfalls Erkenntnisse über den Gleichgewichtssinn oder das Gehör eines Menschen.
Einige Laboratorien setzen auf MicroCT-Scans, um das Felsenbein darzustellen oder eine Bohrung zu steuern und die Zerstörung der Probe zu minimieren. Leider ist dieses Vorgehen nicht Standard, auch weil sich einzelne Gruppen oft eher auf die eigene Forschungsagenda als auf das Gesamtbild konzentrieren.
Fragmente alter Knochen oder Zähne zu zerstören, steht am Anfang vieler paläoanthropologischer Methoden – einschließlich der Analyse alter Proteinspuren, der Radiokohlenstoffanalyse, der Elektronenspin-Resonanz-Datierung, der Probenahme von stabilen Isotopen oder von Zahnstein (um festzustellen, welche Lebensmittel die Menschen gegessen haben) oder beim Ansägen von Zähnen für Wachstumsstudien. Dessen ungeachtet: In Publikationen, auf Konferenzen oder in Social-Media-Kanälen fallen von Seiten der Forscher und Kommentatoren Begrifflichkeiten wie »DNA-Fabrik« oder »industrieller Maßstab« regelmäßig vor allem dann, wenn es um die Analysen alter Genome geht.
Die meisten der genannten Techniken werden in einzelnen Studien auf Dutzende von Proben angewandt – und gelegentlich alle auf eine einzelne. Die Paläogenomik ist aber ein besonderer Fall, weil hier in einigen Labors schon Projekte mit hunderten Proben durchführbar sind: Sinkende Kosten für die Sequenzierung und ein schneller Fortschritt der Methodik machen das möglich. Die Veröffentlichung von derart groß angelegten Studien setzt andere Forscherteams unter Druck, ähnlich beeindruckende Stichprobengrößen zu liefern. Dazu kommt dann, dass die Forscher eine beliebige einzelne Genomprobe eines Menschen mit der von möglichst vielen der alten Zeitgenossen vergleichen sollten, um Migration und Entwicklungsgeschichte alter Populationen optimal analysieren zu können. Studien mit größerem Stichprobenumfang liefern schließlich mehr Referenzdaten, auf die andere Forscher zurückgreifen können – und so beginnt eine sich selbst verstärkende Schleife von Forscheraktivitäten.
Perspektive überdenken
Wir finden, dass in der Paläogenom-Forschung zwei grundlegende Veränderungen nötig sind.
Zunächst sollten unterschiedlichste Interessengruppen Mitspracherechte bekommen. Im Moment regelt ein wahrer Flickenteppich von Vorschriften und Institutionen, ob an alten menschlichen Überresten geforscht werden darf, wenn dabei destruktive Methoden zum Einsatz kommen. Dabei sind indigene Gemeinschaften in einigen Ländern formal an der Entscheidungsfindung beteiligt, wenn die Forschung an Knochen ihrer Vorfahren geplant ist. In anderen Fällen kann eine solche Entscheidung aber auch in den Händen eines einzelnen Kurators liegen.
Wenn die paläogenetische Erforschung alter menschlicher Populationen und ausgestorbener naher Menschenverwandten boomt wie zuletzt, dann dürfte den Forschern auf Grund der Knappheit alter Überreste innerhalb weniger Jahrzehnte das Material ausgehen. Es ist daher dringend geboten, dass Wissenschaftler nicht jedes alte Genom sequenzieren in der Hoffnung, dass dabei schon irgendetwas Interessantes herauskommt: Sie müssten im Voraus festlegen, welche Frage sie zu beantworten versuchen , und zulassen, dass Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven ihre Ziele im Vorfeld bewerten.
Die Überreste eines Menschen haben einen inneren Wert und eine Funktion für die kulturelle Überzeugung und Lebensweise vieler Völker der Welt. Gleichzeitig haben sie einen wissenschaftlichen Wert. Und so sollten Entscheidungen darüber, ob oder wie sie für die Forschung verwendet werden, von einer breiten Gruppe getroffen werden – von Forschern und von Nachkommen der untersuchten Bevölkerungsgruppen gleichermaßen. Ein Beispiel: Wenn nur drei Proben einer bestimmten alten menschlichen Population auf der Welt existieren, wie viele dürften wir davon vernünftigerweise vernichten, um eine bestimmte Frage zur menschlichen Migration zu beantworten?
Ein auf solchen Fragenstellungen beruhender Ansatz würde Entscheidern helfen, ausbalancierte Bewertungen vorzunehmen – um etwa zu bewerten, ob wir jetzt Paläo-DNA-Daten sammeln oder lieber damit warten, bis in Zukunft eine möglicherweise kostengünstigere und weniger destruktive Sequenzierungsmethode zur Verfügung steht. Vor dem Aufkommen der zielgerichteten Next-Generation-Sequenzierung Mitte bis Ende der 2000er Jahre hat die Sequenzierung von DNA aus alten Proben eher zufällig mal geklappt und mal nicht. Erst in den Jahren darauf konnten Forscher dann endogene von verunreinigenden DNA-Spuren trennen und gezielt vervielfältigen.
Ein größeres Engagement verschiedener Interessengruppen beim Problem des Umgangs mit alten Erbgutproben bei gleichzeitig ständig verbesserten Untersuchungsmethoden wird auch einen interdisziplinären Austausch befruchten, und das dürfte zu genaueren Modellen und Hypothesen sowie dem Aufbau dauerhafter Partnerschaften führen. Ein solcher Ansatz wäre unserer Ansicht nach entscheidend, um in einem Forschungsfeld wieder Vertrauen aufzubauen – Vertrauen, das in der Vergangenheit durch Entscheidungen von Archäologen und Genetikern bei vielen indigenen Gruppen verloren gegangen ist.
Schaffen wir Verantwortlichkeit. An Lkw-Wägeplätzen und ähnlichen Einrichtungen wird der Verbleib von Holz- und Gesteinsladungen akribisch überwacht, um den illegalen Erwerb von Ressourcen zu verhindern. Genauso müssten Kuratoren, Forscher und andere Beteiligte den Transport alter Überreste von einer Institution zur anderen sowie alle weiteren Ereignisse des Transfers transparent dokumentieren. Bei einem derartigen Audit sämtlicher alter Überreste könnten sich dann alle darüber informieren, welche Exemplare zu Staub gemahlen wurden, ohne nützliche Daten zu liefern – oder welche verarbeitet wurden, ohne dass die gewonnenen Daten publiziert wurden, et cetera.
In den USA könnte die National Science Foundation (NSF) beim Aufbau einer solchen Datenbank vorangehen. Auch Graswurzel-Initiativen in Museen wie dem Smithsonian Museum of Natural History in Washington D.C. oder dem Bernice Pauahi Bishop Museum in Honolulu, Hawaii, könnten helfen, die Praxis zu verändern. Die Forschergemeinde könnte problemlos ins Boot geholt werden, indem man Gutachtern und Geldgebern auferlegt, eine verpflichtende Erklärung über die Umstände der Probenentnahme einzuholen. Ein wichtiger Punkt wäre dabei, dass das Wissen über alte Proben mit Hilfe eines solchen dezentralen Ansatzes nicht auf wenige Gruppen beschränkt bliebe.
Verschwendete Ressourcen
Viele der großen archäologischen Fundstätten der Vorgeschichte sind heute leer gefegt – den frühen Archäologen sei Dank, die gelegentlich kaum mehr als Schatzsucher waren und Armeen ungelernter Arbeiter angewiesen haben, den Inhalt von Höhlen, Gräbern und Grabstätten auszubuddeln. Die Latte lag niedrig, als noch so wenig bekannt war; jede Entdeckung war interessant, und wenig oder gar nichts blieb für zukünftige Generationen übrig. Tatsächlich wurden noch in den 1990er Jahren alte menschliche Skelette für Radiokarbon- und andere Analysen großflächig zerstört. Heute sind solche Analysen mit deutlich kleineren Knochensplittern möglich.
Wir sollten die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Vielmehr muss es den künftigen Generationen von Wissenschaftlern – aus allen Ländern der Welt und aus allen Bereichen der Gesellschaft – möglich bleiben, unsere gemeinsame Geschichte zu interpretieren.
Der Kommentar ist im Original unter dem Titel »Use ancient remains more wisely« in »Nature« erschienen.
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