Die fabelhafte Welt der Mathematik: Gabriels Horn: Unendliche Fläche mit endlichem Volumen?
Wenn ich eine Wand streichen soll, neige ich dazu, zu wenig Farbe zu kaufen. Mit einem zehn Liter großen Farbeimer, der durch sein Fassungsvermögen doch einiges wiegt, kann man gerade einmal eine etwa 15 Meter lange Wand bedecken. Muss man mehrere Schichten Farbe auftragen, etwa wenn man eine dunklere Farbe abdecken möchte, dann reicht der Farbeimer nicht einmal mehr für einen kleinen Raum aus. Ich bin meist nicht die Einzige, die dazu neigt, die Menge an benötigter Farbe zu unterschätzen. Das hat damit zu tun, dass man sich Farbe als eine unendlich dünne zweidimensionale Schicht vorstellt – doch in Wirklichkeit hat sie eine endliche Ausdehnung. Diese Tatsache liegt auch dem so genannten Maler-Paradoxon zu Grunde.
Im 17. Jahrhundert beschrieb der italienische Physiker und Mathematiker Evangelista Torricelli (1608–1647) ein geometrisches Objekt, das später als »Torricellis Trompete« oder auch »Gabriels Horn« bekannt wurde. Letzteres ist eine Anspielung auf den Erzengel Gabriel, der laut der Bibel am Tag des Jüngsten Gerichts in ein sehr langes Horn bläst. Der Name trifft den Nagel auf den Kopf, denn das von Torricelli erdachte Gebilde ähnelt einem unendlich langen Horn, dessen Mundstück im Unendlichen liegt. Und es besitzt erstaunliche Eigenschaften, die einige Gelehrte als Anlass nahmen, um über metaphysische Fragen nachzudenken: Zunächst nicht weiter überraschend, besitzt das Horn eine unendlich Große Oberfläche – doch das Fassungsvermögen ist endlich.
Diese Erkenntnis löste unter Fachleuten jahrelange Streitigkeiten aus. Viele waren überzeugt, ein unendlich ausgedehntes Objekt könne niemals ein endliches Volumen besitzen, während andere diesen Punkt zwar akzeptierten, aber nicht verstehen konnten, wie ein endliches Volumen mit einer unendlichen Fläche einhergehen kann. Und tatsächlich führt Torricellis Trompete zum Maler-Paradoxon: Einerseits gibt es im ganzen Universum nicht genügend Farbe, um das Horn zu bemalen, da seine Fläche unendlich groß ist. Andererseits kann man es wegen des endlichen Fassungsvermögen vollständig mit einer gewissen Menge an Farbe füllen. Wenn man das tut, hat man jedoch die Fläche gleichzeitig mitgestrichen.
Die Unendlichkeit führt zu einem vermeintlichen Paradoxon
Wieder einmal liegt der Knackpunkt in der Unendlichkeit. Denn um das Volumen und die Fläche eines Körpers wie der Torricelli-Trompete zu berechnen, braucht man die Infinitesimalrechnung, ein Teilgebiet der Analysis. Diese erklärt, wie man mit Grenzwerten umgeht, etwa wenn Zahlen bis ins Unendliche anwachsen oder verschwindend klein werden. Torricelli wählte als Ausgangspunkt für seine Trompete den Graph der Funktion f(x) = 1⁄x für x > 1. Wenn man diese Kurve um die x-Achse rotiert, entsteht eine Figur, die einem unendlich langen, immer schmaler werdenden Horn ähnelt.
Um das Volumen einer solchen Figur zu berechnen, zerlegt man sie in unendlich viele schmale Streifen, deren Fassungsvermögen man einzeln berechnen und anschließend summieren kann. Diese Summe aus unendlich vielen unendlichen schmalen Streifen ergibt dann ein Integral, eine Art kontinuierliche Summe. Wenn Sie sich an die Oberstufe zurückerinnern: Über die Methode der Ober- und der Untersumme wurde damals auf ähnliche Weise das Integral eingeführt. Hier macht man etwas sehr Ähnliches, aber nicht, um eine zweidimensionale Fläche, sondern um ein dreidimensionales Volumen zu berechnen.
Die schmalen Streifen, in die man die Trompete zerlegt, ähneln dabei einem kurzen Kegelstumpf. Je schmaler man die Streifen jedoch schneidet, desto mehr ähnelt die Figur einem Zylinder. Wie sich herausstellt, lässt sich beweisen, dass es genügt, bei der Volumenberechnung einen Zylinder als Annäherung für die Streifen zu wählen. Das Volumen einer solchen Figur ist das Produkt aus der Kreisfläche multipliziert mit der Höhe. In diesem Fall entspricht die Höhe dem infinitesimalen Abstand auf der x-Achse dx, und die Kreisfläche beträgt π·r2. Der Radius r stellt den y-Achsenabschnitt an der Stelle x dar. Weil f(x) = 1⁄x ist, folgt r = 1⁄x. Somit lautet das Volumen eines einzelnen Zylinders: V = π·dx⁄x2.
Um das Gesamtvolumen der Trompete zu berechnen, muss man nun über alle Punkte x > 1 (also der Bereich, auf dem das Horn definiert ist) auf dem Zahlenstrahl integrieren: \[V=\pi \int_1^\infty \frac{dx}{x^2} = -\pi \cdot \frac{1}{x}\bigg|_1^\infty = \pi\] Der letzte Schritt ergibt sich, weil der Term 1⁄x für sehr große Werte von x extrem klein wird und im Grenzwert sogar ganz verschwindet. Wenn die Trompete von Torricelli also eine Öffnung mit einem Radius von 10 Zentimetern hat, dann fasst sie – trotz unendlicher Länge – bloß π Liter. Das ist weniger Volumen, als ein gängiger Farbeimer enthält, mit dem man eine Wand streicht!
Wendet man sich der Oberfläche des Horns zu, wird es etwas komplizierter. Man geht dafür zunächst ebenso vor wie zuvor und schneidet die Trompete in feine Scheiben. In diesem Fall lassen sich diese aber nicht durch Zylinder annähern, sondern man muss sie als Kegelschnitte beschreiben. (Die Volumenberechnung kann man natürlich auch mit Kegelschnitten durchführen, doch das ist komplizierter und führt letztlich zum selbem Ergebnis wie die Zylinder.)
Die Fläche eines Kegelschnitts berechnet sich über das Produkt aus dem Umfang mal der infinitesimalen Länge dl. Eigentlich folgt die Länge einer gekrümmten Kurve, doch man kann sie als gerade Linie nähern, wodurch man über Pythagoras den Zusammenhang dx2 + dy2 = dl2 erhält. Am Ende hat man somit eine Gleichung, die nur von x und dx abhängt (y ist ja durch die Funktionsgleichung gegeben). Für einen Kegelschnitt gilt daher: A = 2πr·dl. Und auch in diesem Fall ist r der y-Achsenabschnitt, also 1⁄x. Wenn man nun die gesamte Fläche berechnen möchte, integriert man wieder über alle Werte von x > 1 und stellt fest, dass das Ergebnis unendlich groß wird: \[ A= 2\pi\int_1^\infty\frac{1}{x} dl = 2\pi\int_1^\infty\frac{1}{x} \sqrt{1+ \frac{1}{x^4}}dx = \infty \]
Mit einer realen Flüssigkeit lässt sich Gabriels Horn nicht füllen
Die beiden Ergebnisse sind aus mathematischer Sicht korrekt, ihre Richtigkeit lässt keinerlei Interpretationsspielraum. Aber wie lässt sich dann das Maler-Paradoxon erklären? Wenn man eine Menge von π Litern Farbe in das Horn schüttet, hat man dann nicht automatisch die unendliche Oberfläche mitgefärbt?
Ja und nein. Tatsächlich lässt sich die Torricelli-Trompete wie in der Mathematik so häufig nicht eins zu eins auf eine Situation in der realen Welt übertragen. Angenommen, man würde wirklich π Liter Farbe hineinfüllen. Dann würde man feststellen, dass gar nicht alles in das Horn passt. Denn die Farbe besteht aus Molekülen, die zwar winzig sind, aber dennoch eine gewisse Ausdehnung besitzen. Das Horn wird hingegen immer schmaler – sogar so schmal, dass kein Farbmolekül mehr hindurchpasst. Das heißt, es ist unmöglich, es mit einer realen Flüssigkeit zu füllen.
Wollte man hingegen die Innenfläche mit Farbe bepinseln, besitzt die so entstehende Schicht ebenfalls eine Ausdehnung. Die Farbschicht ist folglich keine zweidimensionale Fläche, sondern besitzt ein Volumen – wie bereits die Maßangabe in Farbeimern verdeutlicht. Das heißt, man trägt ein sehr schmales Volumen innerhalb des Horns auf. Da das Gesamtvolumen des Horns endlich ist, ist auch die Menge der benötigten Farbe zum Streichen endlich. Und schon löst sich das Paradoxon in Luft auf.
Dennoch regte die Torricelli-Trompete die Fachwelt zum Nachdenken an. Zum Beispiel konnten Mathematikerinnen und Mathematiker daraufhin beweisen, dass es keine geometrische Figur gibt, die eine endliche Fläche mit einem unendlichen Volumen besitzt. Der wallonische Geometer René-François Walter de Sluse fand hingegen ein Objekt mit endlichem Volumen, aber unendlichem Fassungsvermögen. Er nannte es einen leichten Becher, den selbst der stärkste Trinker nicht leeren kann.
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