Die fabelhafte Welt der Mathematik: Wer Geometrie beherrscht, kann Wahlen entscheiden
Damit hat wohl kaum jemand gerechnet, als man sich in der Schule mit Flächeneinheiten von Dreiecken und Volumenbestimmungen von Prismen abmühte. Mit Geometrie lassen sich Wahlausgänge beeinflussen – zumindest in Mehrheitswahlsystemen. Eines vorab: Ein perfektes Wahlsystem für mehrere Parteien zu gestalten, ist unmöglich. Doch wenn es im Großen und Ganzen wie in den USA nur zwei Parteien gibt, sollte es doch eindeutig sein. Jene mit den meisten Stimmen gewinnt, oder? Wer in den letzten Jahren die US-Präsidentschaftswahlen verfolgt hat, weiß, dass die Realität leider anders aussieht. Ein wichtiger Faktor dabei ist die Form der Wahlbezirke. Wenn man sie geschickt gestaltet, kann eine Partei, die eigentlich unterliegt, dennoch eine Mehrheit der Abgeordneten stellen. Das könnte auch bei den US-Präsidentschaftswahlen, die am 5. November 2024 stattfinden, entscheidend sein.
Während der Wahl wird nicht nur der US-Präsident gewählt, sondern auch der Kongress. Dieser setzt sich aus dem Senat und dem Repräsentantenhaus zusammen. Jeder US-Bundesstaat stellt zwei Senatoren (insgesamt 100) und je nach Bevölkerung einen oder mehrere Abgeordnete (Kalifornien beispielsweise 52, Alaska nur 1), insgesamt 435.
Wer verteilt, gewinnt
Doch zurück zur Mathematik: Die Geometrie des Wahlbezirks spielt für das Repräsentantenhaus eine wichtige Rolle, denn jeder einzelne Bezirk stellt einen Abgeordneten. Indem man die Wahlkreise geschickt wählt, kann man selbst mit wenigen Stimmen einen Sieg davontragen. Dazu ein Beispiel: Angenommen, ein Bundesstaat besteht aus 50 Wählerinnen und Wählern, von denen 20 für eine blaue und 30 für eine rote Partei stimmen. Die Wähler leben wie in Mannheims Innenstadt in einem rasterförmigen Muster, je zehn sind vertikal und je fünf horizontal angeordnet. In den ersten zwei Spalten wohnen alle Rot-Wähler, in den letzten drei die Blau-Wähler. Nun besteht die Aufgabe darin, die Wähler in fünf gleich große Wahlbezirke aufzuteilen.
Man kann beispielsweise fünf vertikale Grenzen ziehen: Dann gäbe es zwei Wahlbezirke mit ausschließlich Rot-Wählern und drei mit Blau-Wählern. Es gäbe also drei Abgeordnete der blauen und zwei der roten Partei – was die Meinung der Bevölkerung widerspiegelt.
Wenn aber eine blau eingestellte Person die Wahlbezirke einteilt, könnte diese geneigt sein, die Grenzen horizontal zu ziehen. Dann sähen alle Wahlkreise gleich aus, mit je vier Rot- und sechs Blau-Wählern. In diesem Fall gewinnt in jedem Bezirk die blaue Partei, sie stellt somit alle fünf Repräsentanten. Ähnliches hat sich 2012 im Bundesstaat New York zugetragen: Dort stimmten 66 Prozent der Personen für die Demokraten, doch die Partei bekam durch geschickt gewählte Wahlbezirke sogar 21 von 27 Sitzen (drei mehr als gerecht gewesen wären).
Eine Person, die rot favorisiert, könnte hingegen eine ganz andere (etwas kompliziertere) Einteilung vornehmen. Dazu packt man in zwei Wahlbezirke nahezu alle Blau-Wähler, so dass in den drei verbleibenden Kreisen die rote Partei eine Mehrheit erhält. Somit gibt es drei rote und zwei blaue Abgeordnete – obwohl mehr Wählerinnen und Wähler der blauen Partei ihre Stimme gaben. Auch dafür gibt es in der US-Geschichte zahlreiche Beispiele: Zum Beispiel erhielten die Demokraten 2012 in Pennsylvania 51 Prozent der Stimmen, doch nur 5 von 18 Sitzen.
Das vorsätzliche Umgestalten von Wahlbezirken, um eine Mehrheit zu erlangen, hat sogar einen Namen: Gerrymandering, ein Kofferwort aus »Gerry« und »Salamander«. Ersteres bezieht sich auf Elbridge Gerry, der 1812 Gouverneur von Massachusetts war und extrem seltsam geformte Wahlkreise bewilligte, die seiner Partei einen Vorteil verschafften. Noch heute entscheiden in 25 Bundesstaaten der USA deren Parlamente über die Einteilung der Wahlbezirke, die etwa alle zehn Jahre (mit Erscheinen des neuen Zensus) erneuert wird. Immer wieder stehen die amtierenden Parteien in Verdacht, das zu ihren Gunsten zu nutzen. Erkennbar wird das häufig an sehr seltsam geformten Wahlbezirken – so auch Anfang des 19. Jahrhunderts in Massachusetts: Ein damaliger Karikaturist bemerkte, dass einer der Bezirke einem Salamander glich und prägte damit den Ausdruck Gerrymandering.
Immer wieder wurden Bezirkseinteilungen angefochten – 1986 urteilte das Oberste Gericht der USA sogar, dass beabsichtigtes Gerrymandering illegal ist. Doch seither hat es kaum einen Wahlbezirk angegriffen. Wie sich herausstellt, ist es gar nicht so einfach, Regeln für eine faire Bezirksgestaltung festzulegen. Selbst Mathematikerinnen und Mathematiker zerbrechen sich über die Frage den Kopf – und rüsten mit enormer Computerpower auf, um dem Problem gerecht zu werden.
Woran erkennt man einen typischen Gerrymander-Wahlbezirk? Wenn man sich den oben abgebildeten Wahlkreis von Maryland anschaut, könnte man den Gestaltern gewisse Hintergedanken unterstellen. Besonders auffällig ist, dass er extrem zerklüftet ist. Eine Forderung lautet deshalb, Wahlbezirke sollten »kompakt« sein – jedoch ohne zu definieren, was »kompakt« genau bedeutet (die topologische Definition von Kompaktheit, dass jede offene Überdeckung des Gebiets wieder eine offene Teilmenge enthält, ist hier wohl kaum gemeint).
Wie sieht ein fairer Wahlbezirk aus?
Ein mögliches Indiz für Gerrymandering könnte die Länge der Außengrenze sein: Je zerklüfteter ein Wahlkreis, desto größer der Umfang. Ein ähnlicher Ansatz besteht darin, den kleinstmöglichen Kreis um den Wahlbezirk zu ziehen und die Flächen beider Formen zu vergleichen. Je stärker der Wahlbezirk von einem Kreis abweicht, desto größer fällt der Unterschied aus. Auch die durchschnittliche Distanz zwischen den Bewohnern eines Bezirks kann auf Gerrymandering hindeuten.
Allerdings ist die Einteilung in Wahlbezirke alles andere als einfach. Jeder Bundesstaat muss dabei eigene Regeln befolgen, wie: Die Bezirke müssen in etwa gleich viele Wähler enthalten, zusammenhängend sein, dürfen keine ethnischen Gruppierungen diskriminieren, keine County-Grenzen überschreiten und müssen natürlichen Grenzverläufen (etwa Flüssen) folgen. Allein durch solche Einschränkungen ergeben sich schon zerklüftete Bezirke – ohne das Wahlverhalten der Einwohner überhaupt zu berücksichtigen.
Außerdem führen kompakte Wahlkreise nicht zwangsläufig zu repräsentativen Ergebnissen, wie eine Studie im Jahr 2013 herausgefunden hat: Sie widmete sich insbesondere der Wahl im Jahr 2000 in Florida, bei der etwa ebenso viele Personen für die Demokraten wie für die Republikaner stimmten, letztere aber 68 Prozent der Repräsentanten stellten. Die Forscherinnen und Forscher nutzten daher einen unparteiischen Algorithmus, der nach den festgelegten Regeln des Bundesstaats möglichst »kompakte« Wahlkreise ziehen sollte. Überraschenderweise lieferte auch der Computer verzerrte Ergebnisse, bei denen meist die Republikaner einen Vorteil hätten. Und schnell erkannten die Fachleute den Grund dafür: Die meisten Demokraten wohnen in den Städten von Florida. Damit gewinnen sie die städtischen Wahlkreise mit überwältigender Mehrheit, während sie in den ländlichen Gegenden jeweils knapp unterliegen (etwa 48 Prozent). Wegen dieses »natürlichen Gerrymandering« ziehen zwangsweise mehr Republikaner ins Repräsentantenhaus ein.
Nicht die Kompaktheit ist entscheidend
Florida ist damit kein Einzelfall, wie der Politikwissenschaftler Jonathan A. Rodden bemerkte. Das Hauptproblem ist also nicht die mangelnde »Kompaktheit« eines Bezirks. Möchte man nachweisen, dass eine Grenze bewusst so gezogen wurde, um einer Partei einen Vorteil zu verschaffen, braucht man mehr Hinweise als die bloße Form.
Ziel ist es, Wahlbezirke zu finden, so dass jede Partei die gleiche Chance hat, ihre Stimmen in Sitze umzuwandeln. Aber wie kann man das bemessen? Der Rechtswissenschaftler Nicholas Stephanopoulos und der Politikwissenschaftler Eric McGhee von der University of Chicago haben 2014 eine Kenngröße für das Problem entwickelt, die Effizienzlücke. Man berechnet sie, indem man die »verschwendeten« Stimmen zweier Parteien voneinander abzieht und dann durch die Gesamtzahl aller Stimmen teilt. Als verschwendet bezeichnet man alle Stimmen einer Partei, die in einem Verlierer-Wahlkreis landen oder die über die für den Gewinn nötigen 50 Prozent liegen. Je kleiner die Effizienzlücke, desto ausgeglichener das Ergebnis.
Dazu kann man erneut das Eingangsbeispiel mit den 50 Wählern (20 für rot, 30 für blau) heranziehen und die Effizienzlücke für die verschiedenen Einteilungen berechnen. Im ersten Fall, als alle Grenzen vertikal gezogen wurden, haben der erste und der zweite Bezirk (von links) je zehn rote Stimmen, also jeweils vier verschwendet. Im dritten, vierten und fünften Bezirk gibt es hingegen jeweils zehn blaue Stimmen, von denen ebenfalls je vier überflüssig sind. Damit beträgt die Effizienzlücke |2·4 − 3·4|/50 = 2/25 =0,08.
Bei der zweiten Einteilung ist jeder Bezirk gleich: Blau gewinnt stets mit sechs von zehn Stimmen. Somit ist keine Stimme von Blau verschwendet – bei Rot sind es hingegen alle. Damit beträgt die Effizienzlücke 20/50 = 0,4, und ist somit deutlich höher als bei der ersten Einteilung.
Das dritte Beispiel ist das spannendste: Die zwei Bezirke, in denen Blau mit 9 zu 1 gewinnt, haben jeweils einen blauen Überschuss von drei. In den drei roten Gewinnerbezirken sind je vier blaue Stimmen verschwendet – insgesamt sind also 2·3 + 3·4 = 18 blaue Stimmen überflüssig. Demgegenüber stehen bloß zwei rote Stimmen, die verschwendet wurden. Das ergibt eine Effizienzlücke von |18 − 2|/50 = 8/25 = 0,32.
Computer mit enormer Rechenleistung als Wahlhelfer
Die Effizienzlücke eignet sich als Indikator, um parteiische Wahlbezirke aufzudecken. Doch manchmal lassen es die natürlichen Gegebenheiten (wenn etwa nahezu alle Wähler einer Partei in ein und derselben Stadt wohnen) kaum zu, bessere Möglichkeiten zu finden. Um diesen Möglichkeiten nachzugehen, hat die Statistikerin Wendy Cho zusammen mit dem Informatiker Yan Liu und dem Geograf Shaowen Wang von der University of Illinois in Urbana-Champaign einen Algorithmus entworfen, der Karten in Wahlkreise aufteilt – anhand der vom betreffenden Bundesstaat vorgegebenen Bestimmungen.
Eine bestmögliche Aufteilung in Wahlkreise zu finden, damit jede Partei die gleiche Wahrscheinlichkeit hat, eine Stimme in einen Sitz umzuwandeln, ist extrem schwer. Die Aufgabe fällt in die Klasse der so genannten NP-Probleme, von denen Informatiker und Mathematiker seit Jahrzehnten vermuten, dass sie sich mit gewöhnlichen Rechnern nicht effizient lösen lassen. Das bedeutet nicht, dass man keine Lösung findet – nur kann es unter Umständen sehr, sehr lange dauern. Daher entschieden sich Cho und ihre Koautoren dafür, den Computer extrem viele Aufteilungen konstruieren zu lassen, die nicht unbedingt perfekt sind.
Als sie ihr Programm beispielsweise auf den Bundesstaat Maryland im Jahr 2011 anwandten, erkannten sie, dass fast alle der 250 Millionen Ergebnisse den Demokraten einen Vorteil gaben. Offenbar sind die natürlichen Gegebenheiten zusammen mit den Anforderungen an die Wahlbezirke derart, dass Republikaner automatisch benachteiligt werden. Cho und ihre Kollegen verglichen die tatsächliche Aufteilung Marylands mit den Ausgaben des Computers und konnten zeigen, dass die offiziellen Wahlbezirke die Demokraten stärker bevorteilten als 99,79 Prozent der 250 Millionen computergenerierten Ergebnisse.
Inzwischen nutzen einige US-Bundesstaaten (hauptsächlich solche, in denen Demokraten die Mehrheit bilden) unabhängige Kommissionen, welche die Wahlkreise neu gestalten. Diese greifen häufig auf Computerprogramme zurück, um eine möglichst faire Aufteilung zu finden.
Wir haben bisher zwar nur über die USA gesprochen, doch Gerrymandering ist kein rein US-spezifisches Problem. In vielen anderen Ländern tauchen ähnliche Schwierigkeiten auf – auch in Deutschland. Zum Beispiel kam es im Vorfeld zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2022 zu Streitigkeiten, als die Stadt Münster wegen der wachsenden Bevölkerung einen dritten Wahlkreis erhielt. Die CDU-FDP-geführte Landesregierung verfügte, das Zentrum von Münster (eine Hochburg der Grünen) zu zerschneiden und auf die drei Bezirke zu verteilen. Viel Erfolg hatten sie damit nicht – den größten Zugewinn im Vergleich zur letzten Wahl verzeichneten trotzdem die Grünen, auch bei den Direktmandaten.
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