Mäders Moralfragen: Gewagte Forschung
Am 15. Juni war Spatenstich beim CERN: Der große Teilchenbeschleuniger LHC wird nach etwa zehn Jahren Betrieb für rund 800 Millionen Euro ausgebaut. Ab 2026 soll er noch einmal zehn Jahre laufen und in dieser Zeit zehnmal so viele Daten sammeln wie in der ersten Phase. Dazu soll er einerseits konstanter arbeiten und andererseits sollen in seinen Detektoren dreimal mehr Teilchen kollidieren als bisher. Derzeit sind es nur 45 Protonenpaare, wenn zwei Pakete von je 120 Milliarden Teilchen aufeinanderstoßen. Denn wegen der elektrischen Abstoßung bleibt viel Platz zwischen den Protonen, durch den die entgegenkommenden Teilchen schlüpfen können. Die Kollisionen summieren sich war auf eine Milliarde pro Sekunde, doch dieser Wert soll noch gesteigert werden.
Gesucht wird nach Hinweisen auf eine neue Physik. Denn das Theoriengebäude, das Physiker in den vergangenen Jahrzehnten gebaut haben, steht zwar fest, aber schief. Seine Vorhersagen werden mit hoher Präzision experimentell bestätigt, doch das lässt die Forscher trotzdem unzufrieden zurück. Ihr Wunschzettel ist lang: Sie möchten die Quantenmechanik mit der Relativitätstheorie verknüpfen, sie möchten die Parameter des Standardmodells der Materie lieber theoretisch herleiten, als sie messen zu müssen, und sie würden gerne die ominöse »Dunkle Materie« verstehen, deren Schwerkraft die Galaxis zusammenhält.
Aber es ist nicht sicher, dass die Physiker im Jahr 2036, wenn der LHC sein Programm absolviert haben wird, wirklich schlauer sind. Sollte es so weit kommen, »muss man sich grundsätzlich Gedanken machen«, sagt der Physiker Oliver Brüning, der stellvertretende Leiter des Ausbaus am Forschungszentrum CERN. Eine so lange Pause des wissenschaftlichen Fortschritts würde schließlich alle irritieren. Wäre die Gesellschaft bereit, auch in diesem Fall neue Milliarden bereitzustellen, um die Suche fortzusetzen?
Suche nach der schönsten Theorie
Das ist eine andere Frage als die übliche nach dem Nutzen der Grundlagenforschung. Die übliche Frage kann man so formulieren: Haben sich die vier Milliarden Euro für den LHC und die weiteren Milliarden für seine Experimente rentiert, wenn als größte Leistung der Nachweis des Higgs-Teilchens aus dem Jahr 2012 bleibt? Darauf wird üblicherweise geantwortet, dass die Teilchenphysik nicht nur unser Wissen über das Universum verbessert, sondern auch die Technik voranbringt. Am CERN wurde zum Beispiel das World Wide Web erfunden und auch das Cloud Computing weiterentwickelt, weil man dort riesige Datenmengen dezentral in verschiedenen Rechenzentren bearbeiten muss. Und mit Protonenstrahlen werden heute auch Tumore behandelt.
Doch möglicherweise stellt sich in einigen Jahren die Frage, warum die Physik keine experimentellen Durchbrüche mehr voraussagen kann. Dass das Higgs-Teilchen existiert, galt als gesetzt, als man den LHC baute, und man wusste auch grob, wonach man suchen muss. Bei der neuen Physik ist das anders. Dort spielen mangels Daten, an denen man sich orientieren könnte, Überlegungen zur Eleganz und Einfachheit der Theorien eine wichtige Rolle – vielleicht sogar eine zu wichtige, wie die Physikerin Sabine Hossenfelder in einem neuen Buch kritisiert.
Auch in der Grundlagenforschung macht man sich Gedanken über den Return on Investment. Auch hier wird gefragt, ob das Geld gut investiert ist, bevor man es bewilligt. So wurde nach einer Analyse der LHC-Daten vor einem Jahr beschlossen, den geplanten International Linear Collider auf die Hälfte zusammenzustutzen. Dieser Beschleuniger, der in Japan gebaut werden soll, wird Elektronen auf ihre Antimaterie-Gegenstücke, die Positronen, schießen. Als Kollisionsenergie genüge die Hälfte des ursprünglich anvisierten Werts, entschied die internationale Beschleuniger-Organisation ICFA im November 2017. Und in China, wo große Ringbeschleuniger geplant werden, gibt es ebenfalls heiße Debatten – über das Risiko politischer Einflussnahme, wie die Physikerin Yangyang Cheng im Spektrum-Interview erläutert, und über den zu erwartenden wissenschaftlichen Ertrag, wie das Magazin »Nature« berichtet.
Verwöhnt von spektakulären Erfolgen
Nicht nur die Gesellschaft muss sich also etwas trauen – für die Forscher gilt das ebenso. Sabine Hossenfelder beklagt jedoch, dass der ökonomische Druck zugenommen habe und das die Risikofreude dämpfe. Es brächten immer weniger Forscher den Mut auf, an unpopulären Theorien zu arbeiten und potenziell visionäre Gedanken zu verbreiten, fasst ihr Spektrum-Rezensent zusammen. Aber radikale Ideen könnten der Schlüssel zu einer neuen Physik sein.
Es wäre schade, wenn die Physik den Elan der vergangenen Jahrzehnte verlöre. Denn wie soll sie Geld bekommen, ohne mit guten Gründen neue Erkenntnisse in Aussicht zu stellen? Man könnte einerseits antworten, dass die Physik die Gesellschaft verwöhnt hat. Echte Pleiten kennt man nicht, und sowohl Forschungseinrichtungen als auch Medien befeuern diese Erwartungshaltung durch immer neue Sensationsmeldungen. Doch wer sich ein realistisches Bild der Wissenschaft macht, der weiß, dass gerade ihre spannenden Projekte riskant sind und im Nichts enden können. Wer die Forschung wirklich voranbringen will, muss auf solche Projekte setzen. Auf der anderen Seite ist jede Bewilligung von Mitteln zugleich eine Entscheidung gegen andere wissenschaftliche Projekte. Daher wird man gut abwägen müssen, wo man die größten Fortschritte erwartet.
Vorläufig muss man der Physik die Daumen drücken, dass sie bald die gewünschten Anhaltspunkte findet. Und man kann sich an Albert Einstein halten, der zuversichtlich war, dass der Mensch die Gesetze der Natur entschlüsseln könne, wenn er sich nur anstrengt: »Raffiniert ist der Herrgott, aber boshaft ist er nicht.«
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