Die fabelhafte Welt der Mathematik: Wie viele Primzahlzwillinge gibt es?
Auf der Suche nach einem Geschenk für einen Kindergeburtstag fiel mir ein Mathematikbuch in die Hände. Ich bin immer wieder fasziniert, wenn Autoren abstrakte wissenschaftliche Themen für Kinder aufbereiten. Es gibt inzwischen allerlei tolle Kinderbücher, von Einsteins Theorien über das Leben von Marie Curie bis hin zu Technik und Raumfahrt. Doch dieses Buch ist anders. Darin dreht sich alles um Primzahlen – und zwar nicht um irgendwelche, sondern um Primzahlzwillinge. Der dänische Autor Jan Egesborg bemüht sich, Kindern eines der hartnäckigsten offenen Probleme der Zahlentheorie näherzubringen, an dem in den letzten 100 Jahren selbst die klügsten Köpfe immer wieder scheiterten: die Primzahlzwillingsvermutung.
Die Vermutung fällt – wie so oft in der Mathematik – in die Kategorie: kinderleicht zu verstehen, aber verdammt schwer zu beweisen. Als Primzahlzwillinge bezeichnet man zwei Primzahlen, die einen Abstand von zwei haben, die also unmittelbar aufeinander folgen (wenn man gerade Zahlen ignoriert). Beispiele dafür sind: 3 und 5 oder 5 und 7 sowie 17 und 19. Unter kleinen Zahlen findet man sehr viele Primzahlzwillinge, doch je weiter man den Zahlenstrahl hinaufwandert, desto seltener werden sie.
Kein Wunder, denn auch die Primzahlen sind unter großen Zahlen immer dünner gesät. Dennoch war bereits in der Antike bekannt, dass unendlich viele Primzahlen existieren. Ob das auch für ihre Zwillinge gilt, ist allerdings noch offen. Die Primzahlzwillingsvermutung besagt, dass es unendlich viele Primzahlzwillinge gibt. Egal, wie groß die Werte werden, die man betrachtet, es wird unter den ungeraden Zahlen stets direkt aufeinander folgende Primzahlen geben.
Zugegeben: Die letzten beiden Absätze kindgerecht aufzubereiten, ist vielleicht doch nicht so einfach wie angekündigt (daher habe ich so großen Respekt vor der Leistung von Egesborg und seinem Kinderbuch). Primzahlen (2, 3, 5, 7, 11, 13, …) stellen so etwas wie die Atome der natürlichen Zahlen dar: Sie sind nur durch eins und sich selbst teilbar. Alle anderen natürlichen Zahlen lassen sich in ihre Primteiler zerlegen, ein Produkt aus Primzahlen; so wie sich Moleküle aus Atomen zusammensetzen. Damit sind Primzahlen die Grundbausteine der mathematischen Welt.
Ein Beweis aus der Antike
Doch anders als in der Natur gibt es in der Mathematik unbegrenzt viele Bausteine. Das bewies Euklid bereits vor mehr als 2000 Jahren mit einem einfachen Gedankenspiel: Angenommen, es gäbe nur eine endliche Anzahl an Primzahlen, wobei die größte p ist. In diesem Fall könnte man alle Primzahlen bis p miteinander multiplizieren und eins addieren: 2·3·5·7·11·...·p + 1. Das Ergebnis lässt sich durch keine der existierenden Primzahlen 2, 3, …, p teilen. Damit ist die Zahl 2·3·5·7·11·...·p + 1 entweder eine neue Primzahl oder sie enthält einen Teiler, der in den ursprünglichen 2, 3, …, p Primzahlen nicht auftaucht. Daher kann keine endliche Liste von Primzahlen jemals vollständig sein; man wird immer zusätzliche konstruieren können. Daraus folgt, dass es unendlich viele Primzahlen gibt.
Doch sind noch längst nicht alle Rätsel über Primzahlen gelöst. Gerade ihre Verteilung auf dem Zahlenstrahl gibt bis heute Rätsel auf. Man weiß zwar, dass Primzahlen unter großen Zahlen immer seltener auftauchen, aber es lässt sich nicht exakt angeben, wie sie verstreut sind. Grundsätzlich beträgt der Abstand zwischen einer Primzahl zur nächsten durchschnittlich den Wert ln(p). Für kleine Zahlen wie p = 19 entspricht das ln(19) ≈ 3, für große Primzahlen wie 2 147 483 647 liegt der Abstand bei etwa 22 und für riesige Werte wie 531 137 992 816 767 098 689 588 206 552 468 627 329 593 117 727 031 923 199 444 138 200 403 559 860 852 242 739 162 502 265 229 285 668 889 329 486 246 501 015 346 579 337 652 707 239 409 519 978 766 587 351 943 831 270 835 393 219 031 728 127 (ebenfalls eine Primzahl) beträgt die Distanz etwa 420. Wenn auch langsam, wächst der durchschnittliche Abstand zwischen den Primzahlen mit der Größe von p.
Und genau diese Tatsache macht Primzahlzwillinge für Zahlentheoretiker so interessant. Denn diese Primzahlpaare besitzen den kleinstmöglichen Abstand zueinander (wenn man von den beiden Primzahlen 2 und 3 absieht). Da die durchschnittliche Distanz zwischen Primzahlen aber wächst, könnte es sein, dass es ab einem bestimmten Punkt keine Zwillinge mehr gibt.
Doch das erscheint den meisten Fachleuten unrealistisch: Warum sollte ein bestimmter Punkt auf dem Zahlenstrahl existieren, ab dem auf einmal keine Primzahlzwillinge mehr auftauchen? Was macht diese eine Stelle so besonders? Deshalb besagt die Primzahlzwillingsvermutung, dass es unendlich viele Primzahlzwillinge gibt – sie werden zwar seltener, aber man wird demnach immer auf solche Zahlenpaare stoßen, unabhängig davon, in welchen Bereichen des Zahlenstrahls man sich umschaut. Unter Zahlentheoretikern geht man davon aus, dass diese Vermutung korrekt ist.
Bisherige Computerberechnungen scheinen dieser Auffassung Recht zu geben. Das bisher größte gefundene Paar an Primzahlzwillingen ist: 2 996 863 034 895 · 21290 000 + 1 und 2 996 863 034 895 · 21290 000 – 1, beides Zahlen mit 388 342 Stellen. Doch selbst wenn sie unvorstellbar groß sind, sagt das noch nichts über die Vermutung an sich aus. Mit einer computergestützten Suche wird man niemals beweisen können, dass es unendlich viele Primzahlzwillinge gibt. Da müssen schon stärkere Geschütze her.
Eine unerwartete Überraschung
Und genau die lieferte ein kaum bekannter Mathematiker im Jahr 2013. Yitang Zhang war bis dahin den wenigsten in der Fachcommunity ein Begriff gewesen – doch dann veröffentlichte er eine Arbeit, die wie eine Bombe einschlug. Er konnte zwar nicht die Primzahlzwillingsvermutung beweisen, aber zumindest etwas, das nahe daran herankommt. Damit hatte niemand gerechnet: Seit ihrer Formulierung im 19. Jahrhundert hatte es nur sehr wenige Fortschritte bei der Primzwahlzwillingsvermutung gegeben.
Zhang konnte zeigen, dass es unendlich viele Primzahlpaare der Sorte (p, p + N) gibt, die einen Abstand N zueinander haben, der kleiner ist als 70 Millionen. Die Primzahlzwillingsvermutung wäre bewiesen, wenn er sein Ergebnis für N = 2 belegt hätte. So konnte Zhang aber zeigen, dass es unter allen Primzahlpaaren, die einen Abstand von weniger als 70 Millionen haben, zumindest eine Paarung (p, p + N) gibt, die unendlich oft auftritt.
Das war ein riesiger Fortschritt, denn Mathematiker interessieren sich nicht nur für Primzahlzwillinge, sondern auch für andere Sorten von Primzahlpaaren, etwa solche mit einem Abstand von vier (wie 3 und 7 oder 19 und 23, so genannte Primzahlcousins) oder welche mit einem Abstand von sechs (wie 5 und 11 oder 11 und 17, so genannte sexy Primzahlen). Generell ist für all diese Paarungen unklar, ob unendlich viele von ihnen existieren.
Zhang erzielte dieses erstaunliche Ergebnis, indem er so genannte Primzahlsiebe nutzte. Diese Konstrukte kann man sich wie ein richtiges Sieb vorstellen: Man kippt sämtliche natürlichen Zahlen hinein und filtert alle Werte heraus, die keine Primzahlen sind. Diese Idee geht auf den antiken griechischen Gelehrten Eratosthenes (276/273–um 194 v. Chr.) zurück. Er betrachtete damals eine Liste mit natürlichen Zahlen und strich zunächst (bis auf die zwei) jeden geraden Wert heraus, also jede zweite Zahl. Dann widmete er sich allen Vielfachen von drei, den Vielfachen von fünf und so weiter. Auf diese Weise bleiben am Ende nur noch die Primzahlen übrig.
Das Sieb des Eratosthenes ist zwar exakt, aber aus mathematischer Sicht sehr schwer auf konkrete Probleme anzuwenden. Mit dieser Methode allgemeine Aussagen über Primzahlen zu beweisen, erscheint in den meisten Fällen aussichtslos. Deswegen wandte sich Zhang einem anderen Sieb zu, das nur Zahlen mit großen Primteilern heraussiebt. Dieses Sieb ist zwar nicht so effektiv wie andere, ermöglicht aber genügend Flexibilität, um umfangreiche Beweise zu führen. Zhang arbeitete jahrelang im Alleingang an der Primzahlzwillingsvermutung, da Zahlentheorie eigentlich nicht zu seinem Forschungsgebiet gehörte.
Seine Hartnäckigkeit zahlte sich aus: Mit seiner Arbeit konnte Zhang beweisen, dass es zumindest eine Sorte von Primzahlpaar mit einem Abstand von weniger als 70 Millionen gibt, das unendlich häufig auftritt. Und der nächste Durchbruch ließ nicht lange auf sich warten.
Zahlentheoretiker aus aller Welt stürzten sich auf Zhangs Ergebnis und versuchten, es zu verbessern. Es wurde ein Gemeinschaftsprojekt ins Leben gerufen, dem sich zahlreiche Fachleute anschlossen. Indem sie Zhangs Methode optimierten, konnten sie den maximalen Abstand N zwischen den Primzahlpaaren verringern, um der 2 möglichst nahezukommen: Sie zeigten innerhalb weniger Monate, dass es zumindest eine Sorte von Primzahlpaaren mit einem Abstand von höchstens 4680 gibt, die unendlich oft auftritt. Etwa zur selben Zeit entwickelten die zwei Fields-Medaillenträger Terence Tao und James Maynard ein abgewandeltes Sieb, durch das sie das Ergebnis auf 246 senken konnten – ein bisher ungebrochener Rekord.
Konkret bedeutet das: Betrachtet man alle Primzahlpaare (p und p + N), die einen Abstand zwischen N = 2 und N = 246 haben, dann gibt es zumindest ein solches Paar, das unendlich häufig auftaucht. Die Siebmethoden lassen sich allerdings nicht so weit verallgemeinern, um das Ergebnis bis auf N = 2 zu drücken.
Dennoch markieren die Ergebnisse unverhoffte Fortschritte in einem Bereich, der viele Fachleute ratlos zurücklässt. Das macht Maynard in einem Youtube-Video von »Numberphile« deutlich: »Das ist einer der interessantesten und frustrierendsten Aspekte von Primzahlen: Oft ist klar, wie die Antwort lauten müsste, wir wissen nur nicht, wie wir sie beweisen können. Das Spiel besteht darin, auszuschließen, dass es eine seltsame Verschwörung unter Primzahlen gibt, die dazu führt, dass sie sich ganz anders verhalten, als wir vermuten.«
All diese Details konnte Jan Egesborg in seinem Kinderbuch zu dem Thema natürlich nicht unterbringen. Dennoch gelang es ihm, ein Werk zu verfassen, das ein paar mathematische Konzepte spielerisch vermittelt. Ich habe das Buch damals gekauft und dem betreffenden Kind an seinem Geburtstag geschenkt – die Eltern erzählten mir später, dass es durchaus Spaß daran hatte. Doch wie ich hinterher erfuhr, war es weniger den mathematischen Inhalten und Primzahlen geschuldet, als dass auf einer der ersten Seiten ein Frosch laut furzt.
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