Unwahrscheinlich Tödlich: Tod durch Morchel-Sashimi

Im Frühjahr sprießen unter anderem auch in unseren Breiten seltsame, schwammartige Gebilde aus dem Waldboden, die einige Menschen nur allzu gern aufklauben und vertilgen: Pilze aus der Gattung der Morcheln (Morchella). Mehrere Arten werden wegen ihres nussig-erdigen Geschmacks als Delikatessen hoch geschätzt; Ragouts und Soßen verleihen sie beispielsweise ein ganz besonderes Aroma. Zu den Favoriten zählen die Speisemorchel (Morchella esculenta) und die Spitzmorchel (Morchella elata). Als Sushi-Bestandteil sind sie allerdings nicht unbedingt geeignet, wie ein Bericht aus den USA eindrücklich vor Augen führt.
Am 18. April 2023 erreichten die Gesundheitsbehörde des Bundesstaats Montana Meldungen über zwei Personen mit Vergiftungserscheinungen. Sie hatten tags zuvor unabhängig voneinander dasselbe Restaurant in der Kleinstadt Bozeman besucht und im Anschluss massive Magen-Darm-Beschwerden entwickelt. Etwa eine Stunde nach ihrer Mahlzeit wurde ihnen speiübel, sie erbrachen mehrmals und bekamen Durchfall. Bei beiden waren die Symptome so schwer, dass sie sich deshalb ins Krankenhaus bringen ließen. Das medizinische Personal informierte die Behörde, weil es Lebensmittel als wahrscheinliche Auslöser vermutete. Einer der Patienten starb noch am selben Tag im Spital, der zweite wurde zwar aus der Notaufnahme entlassen, erlag aber nur Stunden später seiner Erkrankung.
Die Behörde war entsprechend alarmiert. Sie ließ das Restaurant sofort schließen und leitete eine Untersuchung ein. Von den Ärztinnen und Ärzten der Verstorbenen hatte sie erfahren, dass beide Patienten vor ihrem Tod dasselbe Gericht gegessen hatten: ein saisonales Spezial-Sushi mit Lachs und frischen Morcheln.
Eiskalter Morchelmord
Die Pilze waren brandneu auf der Speisekarte – die Köche nutzten sie erst seit Ende März. Und nur die Spezial-Sushirolle enthielt Morcheln, weshalb diese schnell in den Fokus der Gesundheitskontrolle gerieten. Im Restaurant nahmen Abgesandte des Amts Proben von den Speiseresten des Vorabends. Sie lernten auch ein Detail, das zum Schlüssel zur Klärung des Falls werden sollte: Seit Einführung der neuen Speise hatte die Küche unterschiedliche Zubereitungsarten der Morcheln ausprobiert. An manchen Tagen übergoss man die Pilze mit einer siedenden Gewürzbrühe und ließ sie über eine Stunde darin ziehen, bevor man sie in die Sushirollen packte. Doch am 17. April hatte das Restaurantpersonal sie kalt mariniert und roh weiterverarbeitet. Das erwies sich als fataler Fehler. Denn Morcheln sind – wie viele andere Pilze – ungekocht giftig.
Angesichts ihrer Beliebtheit und ihrer weiten Verbreitung könnte man annehmen, dass wir mittlerweile alles über die Edelpilze wissen. Das ist aber ein Trugschluss. Denn obwohl Morchelvergiftungen seit mehr als 100 Jahren bekannt sind, ist bis heute unklar, auf welche Substanz sie zurückgehen. In den meisten Fällen erlitten Menschen nach dem Pilzmahl gastrointestinale Beschwerden, die in der Regel mild ausfielen und ohne Behandlung abklangen. Der spanische Mediziner Josep Piqueras beschreibt jedoch einen tödlichen Fall in seiner Heimat: Eine Frau war verstorben, kurz nachdem sie in einem mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Restaurant gespeist hatte. Ein Gericht im Menü war Reis mit Morcheln gewesen. Insgesamt entwickelten innerhalb von drei Tagen 30 weitere Gäste eine leichte Lebensmittelvergiftung, die man allesamt auf die Morcheln zurückführte. Der Verdacht ließ sich aber nie abschließend belegen, weil kein bekanntes Toxin nachgewiesen werden konnte.
Steigende Zahlen, schwerere Symptome
Eine Auswertung des französischen Vergiftungszentrums fand zwischen 2010 und 2020 446 Fälle von Morchelvergiftungen. Im Normalfall erholten sich die Betroffenen schnell wieder, doch acht Personen erlitten nach heftigen Magen-Darm-Beschwerden einen Schock, den zwei nicht überlebten. Die Fachleute heben in ihrer Zusammenfassung hervor, dass die Symptome seit den 2000er Jahren tendenziell schwerer ausfallen als in der Vergangenheit. Zugleich seien die Verkäufe von kultivierten Morcheln gestiegen, die vor allem aus China stammen. Sowohl die französischen als auch die amerikanischen Todesfälle gehen auf importierte Pilze zurück.
Wie der mittlerweile florierende kommerzielle Anbau deren Toxingehalt beeinflussen könnte, ist jedoch völlig unklar. Möglich ist, dass ihre Fruchtkörper Giftstoffe wie etwa Schwermetalle aus der verwendeten Erde aufnehmen. Auch Dünge- und Konservierungsmittel könnten an den Pilzen haften bleiben und nach ihrer Aufnahme im Körper zu Problemen führen. Eines hat sich in den bisherigen Studien allerdings herauskristallisiert: dass die Zubereitungsart ein wichtiger Faktor ist. Am sichersten scheinen getrocknete und anschließend gut durchgegarte Pilze zu sein. Auch frische Morcheln sollten auf jeden Fall komplett durcherhitzt werden, um Bauchschmerzen und Schlimmeres zu vermeiden.
- Im Morchelrausch© lindaparton / stock.adobe.com (Ausschnitt)Morchelreichtum | Einen solch großen Fund sollte man besser in mehrere kleine Portionen aufteilen, statt alle Pilze auf einmal zu essen.
Magen-Darm-Beschwerden sind nicht die einzigen Leiden, die einem nach dem Genuss von Morcheln widerfahren können. Seit den 1990er Jahren registrierten Fachleute nach dem Konsum der Pilze außerdem vermehrt vorübergehende neurologische Störungen. Diese folgen in der Regel einem bestimmten Muster: Etwa acht bis zwölf Stunden, nachdem Betroffene eine größere Menge an Morcheln verdrückt haben, kämpfen sie mit Schwindel, Gleichgewichtsproblemen, Koordinationsstörungen und Zittern. Manche berichten sogar über verzerrte Wahrnehmungen. Der Zustand wird gelegentlich mit einem schlimmen Alkoholrausch und -kater verglichen. In der Fachliteratur findet man auch die Bezeichnung »Kleinhirnsyndrom« – Ausfälle im Zerebellum lösen nämlich eine Kombination aus den beschriebenen Symptomen aus. Das Kleinhirn ist außerdem jener Teil des Gehirns, der besonders sensibel auf Alkohol reagiert.
Die neurologischen Einschränkungen können allein, aber auch zusammen mit den gastrointestinalen Beschwerden auftreten. Die beiden Vergiftungsarten scheinen unabhängig voneinander zu sein und gehen vermutlich auf unterschiedliche Toxine zurück. Im Normalfall klingt das Syndrom innerhalb einiger Stunden bis weniger Tage von allein wieder ab. Das Durchgaren der Pilze bietet in diesem Fall keinen ausreichenden Schutz. Die einzige Möglichkeit, dem unangenehmen Rausch zu entgehen, ist ein maßvoller Konsum frischer Morcheln. Betroffene hatten in der Regel mehrere hundert Gramm von ihnen verspeist, bevor sie solche Nachwirkungen zu spüren bekamen.
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