Freistetters Formelwelt: Ist gleich immer gleich gleich?
So gut wie alle mathematischen Disziplinen bauen auf der so genannten Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre auf. Dabei handelt es sich um einen Satz von Axiomen, die beschreiben, was wir unter dem Begriff »Menge« verstehen, und ihre Eigenschaften festlegen. Dazu gehört auch das Extensionalitätsaxiom, das sich so formulieren lässt:
Der abstrakte Ausdruck besagt, dass zwei Mengen A und B genau dann gleich sind, wenn sie dieselben Elemente enthalten. Klingt ja irgendwie auch logisch; wie sollte man sonst Gleichheit definieren?
Die Angelegenheit wird allerdings komplizierter, wenn man einen anderen Blick darauf wirft. Sind zum Beispiel die zwei Funktionen f(x) = 2x + 4 und g(x) = 2(x + 2) gleich? Für einen beliebigen Zahlenwert von x liefern beide Abbildungen ein identisches Ergebnis. Die äußere Form der Gleichungen ist aber definitiv verschieden.
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Die Frage, wie man Gleichheit interpretiert, ist relevanter, als man angesichts der abstrakten mathematischen Logik denken könnte. Denn die unterscheidet sich durchaus von der menschlichen Logik. Für uns macht es einen Unterschied, in welcher Form etwas präsentiert wird, selbst wenn das, was beschrieben wird, dasselbe ist.
Noch konkreter wird das Problem, sobald man die Mathematik verlässt. Man könnte zum Beispiel zwei Modelle betrachten, welche die Auswirkungen von Schutzmaßnahmen angesichts einer Pandemie beschreiben. Das erste gibt an, dass die Maßnahmen 40 von 100 Menschen schützen. Modell 2 liefert das Resultat, dass 60 von 100 Personen trotz aller Vorkehrungen erkranken können. Oder wenn man es ganz und gar boulevardesk formuliert: Im ersten Fall werden 40 Prozent gerettet; im zweiten müssen 60 Prozent dran glauben. Welches Modell ist besser?
Auf die richtige Präsentation kommt es an
In diesem einfachen Beispiel lässt sich schnell erkennen, dass es keinen Unterschied gibt. So wie die beiden vorigen Funktionen stellen auch die zwei Modelle nur verschiedene Wege dar, um ein und dasselbe Resultat zu beschreiben. Das Framing ist jedoch ein anderes: einmal positiv und einmal negativ. In der reinen Mathematik spielt das keine Rolle. Wenn die Wissenschaft in der echten Welt mit ebenso realen menschlichen Entscheidungen in Kontakt kommt, kann die Präsentation jedoch sehr relevant sein.
Das wurde unter anderem 1998 in einer Studie untersucht, in der Probanden den Geschmack von Hackfleisch bewerten sollten. In allen Fällen bekamen die Testpersonen das gleiche Fleisch, einmal wurde es allerdings mit dem Label »25 Prozent Fett« versehen und einmal mit »75 Prozent mager« – was rein mathematisch natürlich keinen Unterschied macht. Dennoch empfanden die Leute den Geschmack des »mageren« Produkts als besser und weniger fettig.
Versuchen Sie es selbst: Wem würden Sie tendenziell lieber Fördergelder geben? Einer Forschungsgruppe, deren Experimente zu 60 Prozent erfolgreich sind? Oder einer Gruppe, die eine Misserfolgsrate von 40 Prozent aufweist? Es bedarf einer bewussten Anstrengung, hinter das Framing auf die nackten Fakten zu blicken – unsere menschliche Psychologie steht einer objektiven Beurteilung oft im Weg.
Aus mathematischer Sicht ist die Frage nach der Gleichheit eindeutig geklärt. Wir Menschen lassen uns aber täuschen. Diese Möglichkeit der Manipulation wird in der Politik, der Werbung und vielen anderen Bereichen unseres alltäglichen Lebens gerne genutzt. Die Mathematik mag abstrakt erscheinen – doch wenn es darum geht, durch die Vernebelungstaktiken von Propaganda und Reklame zu blicken, schadet es nicht, ein wenig Ahnung von Formeln zu haben.
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