Die fabelhafte Welt der Mathematik: Gödels Unvollständigkeitssätze: Ein Schock für Mathematiker
Sobald es um Zahlen geht, werde ich häufig von Freunden und Kollegen zur Hilfe gerufen – schließlich würde ich mich ja mit Mathematik auskennen. Dabei bin ich im Kopfrechnen denkbar schlecht. Meist versuche ich dann zu erklären, dass es bei dem Fach gar nicht ums Rechnen gehe, auch wenn man in der Schule ein anderes Bild vermittelt bekommt. Auch ich begann erst in der Universität zu verstehen, was sich wirklich hinter der abstrakten Disziplin verbirgt: Man erschafft Welten.
Dafür errichtet man aus wenigen schlüssigen Annahmen, so genannten Axiomen, ein Fundament, auf dem man nach und nach aufbaut. Es ergeben sich immer komplexere Zusammenhänge – bis man schließlich bei den hochkomplexen Themen landet, die aktuell erforscht werden. Dabei hangelt man sich von elementaren Mengen hoch zu Zahlen, von dort zu Funktionen, und arbeitet sich schließlich zu Geometrie, Topologie und abstrakteren Gebieten vor. Alle erscheinenden Inhalte, alle Objekte, Verbindungen und Sätze lassen sich aus den wenigen Grundannahmen, die man anfangs definiert hat, zweifelsfrei herleiten.
Es macht Spaß, sich zu überlegen, wie die Mathematik aussähe, wenn man sich für andere Grundbausteine entschieden hätte. Tatsächlich dauerte es bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, bis man das heutige Axiomensystem, das die Grundfesten des Fachs bildet, gefunden hatte. Denn es gleicht einem Balanceakt: Einerseits möchte man so wenig Annahmen wie möglich treffen, andererseits sollen sie genügend Flexibilität bieten, um die gesamte moderne Mathematik zu erzeugen. Zudem sollen die Axiome intuitiv sein. Zum Beispiel erscheint es plausibel anzunehmen, dass eine leere Menge existiert. Das Grundgerüst, das nach dem Konsens der meisten Fachleute all diesen Anforderungen am besten gerecht wird, ist das so genannte Zermelo-Fraenkel-Axiomensystem mit dem Auswahlaxiom (kurz: ZFC, wobei C für »axiom of choice« steht), das aus insgesamt zehn Grundannahmen besteht.
Gödel lässt den Traum platzen
Im 20. Jahrhundert träumten viele Mathematikerinnen und Mathematiker davon, ein solches Fundament zu finden und zu beweisen, dass es sowohl vollständig (alle mathematischen Wahrheiten lassen sich damit beweisen) als auch konsistent ist, also nicht zu Widersprüchen führt. Doch ein gerade einmal 25-jähriger Logiker, Kurt Gödel, machte 1931 die Hoffnungen zunichte: Sein erster Unvollständigkeitssatz besagt, dass es in allen hinreichend starken widerspruchsfreien Systemen zwangsläufig unbeweisbare Aussagen gibt. Und als wäre das nicht genug, legte er einen zweiten Unvollständigkeitssatz nach, wonach hinreichend starke widerspruchsfreie Systeme nicht beweisen können, dass sie widerspruchsfrei sind.
»Gott existiert, weil die Mathematik konsistent ist. Der Teufel existiert, weil wir es nicht zeigen können«
André Weil1906–1998
Konkret bedeutet das: Sobald man ein Fundament gefunden hat, das mächtig genug ist, um die bekannten Zusammenhänge der modernen Mathematik zu erzeugen, enthält es zwangsläufig Aussagen, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen. Darüber hinaus kann man nicht herausfinden, ob das Axiomensystem nicht vielleicht doch irgendwann zu einem Widerspruch führt, etwa einer offensichtlich falschen Aussage wie 2 = 1.
Wie es sich für einen Beweis aus der Logik gehört, war Gödels Argumentation sehr abstrakt und lief auf hohem Niveau ab. Daher hofften seine Kollegen und Kolleginnen anfangs, der junge Mathematiker habe eine rein akademische Sonderheit gefunden, die keine praktischen Auswirkungen haben würde. Doch sie irrten sich. Inzwischen gibt es zahlreiche Aussagen, von denen bekannt ist, dass sie sich unserem heutigen ZFC-Axiomensystem entziehen und nicht bewiesen werden können.
Das wohl berühmteste Beispiel ist die so genannte Kontinuumshypothese, die sich mit der Frage beschäftigt, ob es zwischen der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen und der nachweislich größeren Unendlichkeit der reellen Zahlen noch eine – oder womöglich mehrere – Unendlichkeiten gibt. Ohne das Fundament der Mathematik zu erweitern, wird man dieser Frage niemals auf den Grund gehen können. In anderen Bereichen wie der Topologie, der Funktionalanalysis und der Zahlentheorie gibt es auch Aussagen, die das ZFC-System nicht verifizieren kann. Selbst in der Festkörperphysik sind Fragestellungen zu den Zuständen von Atomen aufgetaucht, die in diese Kategorie fallen und sich nicht allgemein beweisen lassen.
Eine neue Art, Mathematik zu betreiben
Gödels Unvollständigkeitssätze gehören zu den faszinierendsten Ergebnissen der Mathematik. Sie haben das Fach revolutioniert – und die Wissenschaftler desillusioniert. Doch neben den weit reichenden Folgen seiner Resultate faszinierte Gödel seine Kollegen auch damit, dass er etwas über die Fähigkeiten eines mathematischen Systems aussagen konnte, während er sich innerhalb dieses Systems bewegte. Sprich: Er nutzte die Rechenregeln und logischen Schlüsse, die sich aus den ZFC-Axiomen ergeben, um Aussagen über das ZFC-Axiomensystem selbst zu treffen. Das war eine brillante Leistung, die bislang noch niemand erbracht hatte.
Um das zu erreichen, entwickelte er eine Codierung, die mathematischen Aussagen jeweils eine eindeutige Zahl zuordnet. Anstatt etwa zu schreiben »für jede Zahl m gibt es eine weitere Zahl n, die größer ist als m«, definierte er eine entsprechende natürliche Zahl (die sehr groß ist), aus der sich die Aussage herleiten lässt. Die Codierung ist gar nicht einmal so kompliziert: Gödel wies den zwölf grundlegenden logischen Operationen wie »Plus« oder dem logischen »ODER« die so genannten Gödel-Zahlen 1 bis 12 zu. Variablen wie m oder n entsprachen Primzahlen, die größer sind als zwölf.
Wenn man nun eine Aussage aus den zwölf Operationen und einigen Variablen bildet, lässt sich die dazugehörige Code-Zahl schnell berechnen, zum Beispiel: Für die Aussage 0 + 0 = 0 braucht man die Gödel-Zahlen von 0, + und =. Diese lauten: 6, 11, 5. Nun muss es gelingen, die Reihe 6, 11, 6, 5, 6 (was für 0 + 0 = 0 steht) irgendwie in eine Zahl zu verwandeln, von der man eindeutig auf die ursprüngliche Aussage schließen kann. Einfach nur die Ziffern aneinanderzureihen und »611656« zu bilden, funktioniert nicht. Denn die Codierung könnte auch zu den Gödel-Zahlen 6, 1, 1, 6, 5, 6 passen, was der Aussage 0 NICHT NICHT 0 = 0 entspricht.
Gödels Idee war es daher, Primfaktoren als Anhaltspunkt zu wählen, da sich jede Zahl eindeutig in ihre Primfaktoren zerlegen lässt, etwa 12 = 22 · 3. Um eine Aussage aus n Gödelzahlen zu codieren, kann man also die ersten n Primzahlen miteinander multiplizieren und dabei jede Primzahl mit der entsprechenden Gödelzahl potenzieren. Für das Beispiel 6, 11, 6, 5, 6 wäre die dazugehörige Codierung folglich: 26 · 311 · 56 · 75 · 116. Somit kann man für jede Aussage eine Zahl finden, die dieser eindeutig entspricht.
Eine Aussage über die Aussage selbst
Indem Gödel logische Aussagen, Formeln und sogar Beweise als Zahlen ausdrückte, konnte er die gewöhnlichen Werkzeuge der Mathematik benutzen, um mit ihnen zu arbeiten. Wenn man beispielsweise die Axiome und eine Aussage codiert, dann kann man durch gewöhnliche arithmetische Rechenoperationen prüfen, ob sich die Aussage mit Hilfe der Axiome beweisen lässt oder nicht.
Damit gelang Gödel der Geniestreich: Er schaffte es, eine Aussage G zu formulieren, die von sich handelte. G lautet: »Die Aussage G lässt sich nicht beweisen.« Nun musste Gödel nur noch herausfinden, ob das wahr oder falsch ist. Angenommen, G sei falsch. Dann gilt die Negation der Aussage, nämlich: »Die Aussage G lässt sich beweisen.« Wenn das aber der Fall ist, muss G wahr sein. Es gibt demnach einen Widerspruch: Indem man annimmt, G sei falsch, erhält man die Aussage, G sei wahr.
Daher muss G wahr sein. In diesem Fall lässt sich G jedoch nicht beweisen. Wenn man also davon ausgeht, dass ein Axiomensystem widerspruchsfrei ist, dann gibt es zwingend wahre, aber unbeweisbare Aussagen. Damit ist das Fundament der Mathematik zwangsläufig unvollständig. Das bedeutet aber nicht, dass es Probleme gibt, die weder falsch noch richtig sind – sondern nur, dass sie nicht immer beweisbar sind. Und wie Gödel in seiner bahnbrechenden Arbeit ebenfalls zeigen konnte, ist das für alle Axiomensysteme der Fall – nicht nur für ZFC.
Das kann einen in den Wahnsinn treiben. Bei Gödel hat es das vielleicht auch, er hatte während seines ganzen Lebens mit psychischen Störungen zu kämpfen, die ihn letztlich das Leben kosteten: Aus Angst, vergiftet zu werden, ließ er seine Frau stets sein Essen vorkosten. Als diese aber wegen eines Schlaganfalls im Krankenhaus war, zog der Logiker den für ihn einzig logischen Schluss und hörte auf zu essen.
Wege aus der Not
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