Die fabelhafte Welt der Mathematik: Das ewige Geheimnis der Physik
»Man wird niemals jede mathematische Wahrheit beweisen können.« Für mich ist dieser von Kurt Gödel entdeckte Unvollständigkeitssatz eines der unglaublichsten Ergebnisse der Mathematik. Er mag für manche zunächst nicht allzu überraschend klingen, schließlich gibt es im Alltag allerlei Unbeweisbares. Ich kann zum Beispiel nicht objektiv darlegen, wie ich mich fühle oder nachweisen, dass ich etwas Bestimmtes erlebt habe. Für Mathematikerinnen und Mathematiker war diese Unvollständigkeit jedoch ein Schock – schließlich konstruieren sie aus wenigen Grundbausteinen, den so genannten Axiomen, ihre eigene Welt. Dort gelten nur die Regeln, die sie erschaffen haben, und alle Wahrheiten setzen sich aus den Grundbausteinen und den entsprechenden Regeln zusammen.
Findet man den richtigen Rahmen, so glaubte die Fachwelt lange, sollte sich damit jede Wahrheit auch auf irgendeine Weise beweisen lassen. Wenn man den Beweis zu einem Problem noch nicht gefunden hatte, dann müsste man sich eben mehr anstrengen – so lautete die vorherrschende Meinung. Doch 1931 wurde klar: Das stimmt so nicht. Es wird immer Wahrheiten geben, die sich dem mathematischen Grundgerüst entziehen und unmöglich bewiesen werden können.
Anfangs tröstete man sich noch mit dem Gedanken, dass dieser Unvollständigkeitssatz, den Kurt Gödel während seiner Dissertation erarbeitete, ein höchst abstraktes Ergebnis ist. Die meisten gingen davon aus, dass es kaum Auswirkungen auf praktische Probleme haben würde. Doch kurz nach Gödels bahnbrechenden Arbeiten tauchten die ersten nachweislich unbeweisbaren Probleme auf.
So wird sich zum Beispiel niemals innerhalb des derzeit genutzten mathematischen Rahmens klären lassen, wie viele reelle Zahlen es gibt. Man weiß, dass es überabzählbar unendlich viele sind; aber ist diese Unendlichkeit der reellen Zahlen die nächstgrößere nach der abzählbaren Unendlichkeit (also der Größe der natürlichen Zahlen)? Oder gibt es Mengen, die größer als die natürlichen, aber kleiner als die reellen Zahlen sind? Solche Fragen sind nicht zu beantworten – und werden es nie sein.
Nach und nach fanden Fachleute immer mehr Rätsel, die sich nachweislich nicht lösen lassen – und erstaunlicherweise beschränken sich die Themen nicht nur auf Mathematik. So können in bestimmten Karten- und Computerspielen (zum Beispiel bei Magic: The Gathering) Situationen auftreten, für die sich nicht herausfinden lässt, welcher der Spieler gewinnen wird. Und auch in der Physik gab es schon solche Beispiele: Es lässt sich etwa nicht immer vorhersagen, ob ein Kristallsystem eine Bandlücke enthält – das heißt, man kann nicht berechnen, ob es Strom leiten wird oder nicht.
Eine unbestimmbarer Phasenübergang
Und nun haben Fachleute um den Physiker Toby Cubitt vom University College London eine weitere Weise gefunden, auf die sich der Unvollständigkeitssatz in der Physik niederschlägt. Sie haben dafür ein Teilchensystem beschrieben, das einen Phasenübergang durchläuft – ähnlich wie Wasser, das unterhalb einer Temperatur von null Grad Celsius gefriert. Doch anders als bei Wasser lässt sich der kritische Parameter, bei dem der Phasenübergang einsetzt, nicht berechnen. »Unsere Konstruktion veranschaulicht, wie unberechenbare Zahlen in physikalischen Systemen auftreten können«, schreiben die Physiker in ihrer im Oktober 2024 erschienenen Arbeit.
Tatsächlich ist es nicht das erste Mal, dass Fachleute einen unkalkulierbaren Phasenübergang vorfinden. Bereits 2021 beschrieb Cubitt mit zwei weiteren Kollegen ein physikalisches System, dessen Übergänge nicht vorhersagbar sind. Allerdings gab es in diesem Fall unendlich viele Phasenübergänge: »Die unberechenbaren Regionen sind zufällig und nicht vorhersehbar verteilt und wechseln sich unendlich oft ab«, führen die Fachleute in ihrer neuesten Publikation aus. Solche Situationen treten in der Natur nicht auf. Daher fragten sich die Forscher, ob Unberechenbarkeiten auch in realistischen Systemen erscheinen können. Und wie sie herausfanden, ist das durchaus der Fall.
Cubitt und seine Kollegen untersuchten dafür ein recht einfach wirkendes System: mehrere Teilchen, die auf einem endlichen quadratischen Gitter angeordnet sind und jeweils mit ihren nächsten Nachbarn wechselwirken. Solche Modelle werden meist herangezogen, um Festkörper zu beschreiben. Denn deren Atome sind in einer regelmäßigen Struktur angeordnet, und ihre Elektronen können mit denen der unmittelbar umgebenden Atome interagieren. Die Stärke der Wechselwirkung zwischen den Elektronen hängt in Cubitts Modell von einem Parameter φ ab – je größer φ, desto stärker stoßen sich die Teilchen in den Atomhüllen ab.
Ist die Abstoßung φ klein, dann sind die äußeren Elektronen beweglich: Sie können zwischen den Atomrümpfen hin und her springen. Je stärker φ ist, desto mehr frieren die Elektronen auf ihren Plätzen ein. Dieses unterschiedliche Verhalten macht sich auch in der Energie des Systems bemerkbar. Dazu kann man sich den Grundzustand (die niedrigste Gesamtenergie) und den nächsthöheren Energiezustand anschauen. Falls φ sehr klein ist, kann die Gesamtenergie des Systems kontinuierlich wachsen. Das führt dazu, dass das System problemlos Strom leitet. Für große Werte von φ ist das hingegen anders. In diesem Fall wächst die Energie nur schrittweise an. Zwischen dem Grundzustand und dem ersten angeregten Zustand klafft eine Lücke. In diesem Fall wäre – je nach Größe der Lücke – das System ein Halbleiter oder ein Isolator.
So weit ist das System nicht ungewöhnlich. Physikerinnen und Physiker haben bereits Tausende solcher Modelle erstellt, um alle möglichen Feststoffe und Kristalle zu beschreiben. Da das von Cubitt und seinen Kollegen beschriebene System jedoch zwei verschiedene Verhaltensweisen aufzeigt, muss es einen Übergang zwischen der leitenden und der isolierenden Phase geben. Sprich: Es gibt einen Wert von φ, ab dem das Energiespektrum des Systems plötzlich eine Lücke erhält.
Eine unberechenbare Zahl
Cubitt und sein Team haben den Wert von φ ermittelt, bei dem diese Lücke auftritt. Und sie entspricht der so genannten chaitinschen Konstanten Ω – eine Zahl, die Mathematik-Nerds vielleicht vertraut vorkommt. Denn sie gehört zu den wenigen bekannten Beispielen für Zahlen, die nicht berechenbar sind. Das sind irrationale Zahlen, deren Nachkommastellen bis in alle Ewigkeit fortlaufen und sich niemals regelmäßig wiederholen. Allerdings lässt sich der Wert einer nicht berechenbaren Zahl – im Gegensatz zu berechenbaren irrationalen Zahlen wie π oder e – nicht beliebig genau annähern. Es gibt keinen Algorithmus, der, wenn er unendlich lange läuft, Ω ausgibt. Wenn Ω nicht berechenbar ist, dann lässt sich auch nicht angeben, wann es im System von Cubitt zu einem Phasenübergang kommt.
Der argentinisch-US-amerikanische Mathematiker Gregory Chaitin hat Ω erstmals definiert – und zwar genau zu dem Zweck, eine nicht berechenbare Zahl zu finden. Dafür nutzte er das berühmte Halteproblem aus der Informatik: Demnach gibt es keine Maschine, die für alle möglichen Algorithmen beurteilen kann, ob ein sie ausführender Computer irgendwann zum Halten kommt oder nicht. Übergibt man einem Rechner einen beliebigen Algorithmus, kann man unter Umständen zwar schon beurteilen, ob sich dieser in endlicher Zeit ausführen lässt. Doch es gibt nachweislich keine Methode, die das für alle denkbaren Programmcodes tun kann. Damit ist das Halteproblem ebenfalls eine direkte Anwendung von Gödels Unvollständigkeitssatz.
Die chaitinsche Konstante Ω entspricht der Wahrscheinlichkeit, mit der das theoretische Modell eines Computers (eine Turingmaschine) für eine beliebige Eingabe anhält: \(\Omega = \sum_{p}\frac{1}{2^{|p|}}, \) wobei p alle Programme bezeichnet, die nach endlicher Laufzeit halten. |p| beschreibt die Länge des Programms in der Einheit Bit. Um die chaitinsche Konstante genau zu berechnen, müsste man also wissen, welche Programme halten und welche nicht – was gemäß des Halteproblems nicht möglich ist. Dennoch gelang es dem Mathematiker Cristian Calude und seinen Kollegen im Jahr 2000, die ersten Stellen der chaitinschen Konstante zu berechnen: 0,0157499939956247687… Beliebig viele Nachkommastellen werden sich aber niemals finden lassen.
»Unberechenbare Zahlen können in physikalischen Modellen auftreten, selbst wenn alle zu Grunde liegenden mikroskopischen Daten vollständig berechenbar sind«Toby Cubitt, Physiker
Das Team um Cubitt hat also rechnerisch nachweisen können, dass sein physikalisches Modell für einen Wert von φ = Ω einen Phasenübergang durchläuft: Es wird von einem Leiter zu einem Isolator. Da sich Ω aber nicht exakt berechnen lässt, ist damit auch das Phasendiagramm des physikalischen Systems unbestimmt. Und das hat nichts damit zu tun, dass die aktuellen Computer nicht leistungsfähig genug sind oder man nicht ausreichend Zeit hat, das Problem zu bewältigen – die Aufgabe ist nachweislich unlösbar. »Unsere Ergebnisse zeigen, dass unberechenbare Zahlen als Phasenübergangspunkte in physikalischen Modellen auftreten können, selbst wenn alle zu Grunde liegenden mikroskopischen Daten vollständig berechenbar sind«, schreiben die Physiker in ihrer Veröffentlichung.
Das verdeutlicht einmal mehr, wie unglaublich weit reichend die Erkenntnis von Gödel ist. Auch nach mehr als 90 Jahren finden sich immer wieder Beispiele für unbeweisbare Aussagen – selbst wenn man zugeben muss, dass die Präzision, mit der man die chaitinsche Konstante angeben kann, für reale Anwendungen höchstwahrscheinlich genügt. Dennoch könnte es sein, dass tief greifende physikalische Probleme, etwa die Suche nach einer Weltformel, von Gödels Unvollständigkeitssätzen betroffen sind.
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