Springers Einwürfe: Göttliche Hüter der Moral
Wer religiös erzogen wurde, der weiß noch gut, wie einschüchternd die Vorstellung einer übernatürlichen Beobachtungsinstanz wirkt, die Missetaten auch dann zu bestrafen droht, wenn man sie hinter dem Rücken irdischer Aufsichtspersonen begeht. So erscheint die Annahme ganz plausibel, dass im Lauf der Menschheitsgeschichte größere Gesellschaften durch die Fiktion einer allwissenden Moralinstanz entstehen konnten, die asoziales Verhalten verbot. Ohne strafende Götter, so die Vermutung, wären die frühen Kulturen, in denen ja nicht mehr nur enge Verwandte und Bekannte zusammenlebten, rasch an der mangelnden Kooperation von Egoisten und Trittbrettfahrern zu Grunde gegangen. Für die These sprechen psychologische Experimente, die erforschen, wie sich Sozialverhalten in Gruppen zu entwickeln vermag.
Doch mussten es unbedingt jenseitige Aufpasser sein? Waren göttliche Moralhüter eine notwendige Voraussetzung für komplexe Gesellschaften? Diese Frage hat ein Team um den Sozialanthropologen Harvey Whitehouse von der University of Oxford nun anhand einer gewaltigen Menge kultureller Daten eingehend untersucht (Nature 568, S. 226–229, 2019).
Die Forscher nutzten die »Seshat: Global History Databank«, benannt nach einer altägyptischen für Ahnenkult und Buchhaltung zuständigen Gottheit. Seit 2011 sammelt und ordnet »Seshat« historische Fakten zu Sozialstrukturen und Religionen aus aller Welt. Das Team um Whitehouse konnte damit 414 Gesellschaften aus den vergangenen 10 000 Jahren hinsichtlich Komplexität und Religiosität vergleichen. Wie aus der zeitlichen Analyse der Seshat-Daten hervorgeht, wächst die Kenngröße »soziale Komplexität« vor dem Auftreten strafender Götter mehr als fünfmal so schnell wie danach. Das legt den Schluss nahe, dass moralisierende Gottheiten erst später erschienen. Im umfangreichen Methodenteil des Artikels begründen die Forscher die Schlussfolgerung eingehend. Sie untergräbt die gängige Annahme, die Idee einer jenseitigen Instanz, die individuelles Fehlverhalten ahndet, sei eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Kultur.
Das bedeutet freilich nicht, diese Vorstellung hätte im Lauf der Menschheitsgeschichte keine Rolle gespielt. In der Seshat-Datenbank tauchen moralisierende Götter erstmals um 2800 v. Chr. in Ägypten auf. Wenn sechs Jahrhunderte später in Mesopotamien Handelsverträge in Keilschrift auf Tonscherben festgehalten wurden, fehlte nie die Berufung auf eine Gottheit als Garant der Vertragssicherheit. Und obwohl die griechischen Götter in moralischer Hinsicht gewiss fragwürdige Vorbilder darstellten, dienten sie im alten Rom dazu, jedem Angst einzujagen, der einen feierlichen Eid brach.
Selbst wenn übernatürliche Moralhüter nicht notwendig für die Herausbildung komplexer Sozialstrukturen waren, so trugen sie später zu deren dauerhafter Stabilisierung bei. Die einzige urbane Großgesellschaft, die keine individuell sanktionierenden Götter kannte, war das kurzlebige Reich der Inka; es wurde von inneren Kriegen zerrissen und war wohl schon vor Ankunft der spanischen Eroberer dem Untergang geweiht.
Falls komplexe Sozialsysteme auch ohne allwissendes Auge entstehen konnten – was sonst führte sie zusammen? Die Autoren der Studie verweisen auf den kollektiven Kitt durch komplizierte Rituale, etwa zur Beschwörung guter Ernten, deren Befolgung streng überwacht wurde. Jedenfalls definiert Dostojewskis berühmter Satz »Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt« keine historische Voraussetzung für menschliche Kultur.
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