Die fabelhafte Welt der Mathematik: Ist der goldene Schnitt ein gutes Maß für Schönheit?
Vorab möchte ich direkt klarstellen: Eine einhellige wissenschaftliche Definition von Schönheit gibt es nicht. Dennoch liest man häufig von Zusammenhängen zwischen Mathematik und Ästhetik – vor allem in Zusammenhang mit Symmetrien oder dem goldenen Schnitt. Letzterer ist ein ganz bestimmtes Längenverhältnis, das gerundet in etwa 1,618 entspricht. Der Zahlenwert ist eine irrationale Zahl, also ein Wert mit unendlich vielen Nachkommastellen, die sich niemals regelmäßig wiederholen. Oft hört man, der goldene Schnitt tauche überall in der Natur, der Kunst und der Kultur auf. Daran haben Fachleute ihre berechtigten Zweifel – auch wenn der goldene Schnitt aus mathematischer Sicht durchaus sehr interessant ist.
Die Behauptung, Menschen empfänden den goldenen Schnitt als ästhetisch, hält sich hartnäckig. Laut einiger Medienberichte wertete das britische Versicherungsvergleichportal »money.co.uk« die Proportionen unterschiedlicher Hunderassen aus und bewertete die Tiere nach ihrer »Schönheit«. Demnach sei die schönste Hunderasse jene, deren Verhältnisse (Länge der Schnauze, Abstand der Augen, Kopflänge und so weiter) am nächsten am goldenen Schnitt liegen. Platz eins belegt hierbei der Cairn Terrier, Platz zwei der Westie und Platz drei der Border Collie. Auch die Gesichter von weiblichen Berühmtheiten wurden »auf ihre Perfektion« hin untersucht, wie die britische Boulevardzeitung »The Sun« im Juli 2023 berichtete. Demnach wiesen die Gesichtszüge der Schauspielerin Jodie Comer am meisten Gemeinsamkeiten mit dem goldenen Schnitt auf, dicht gefolgt von ihrer Kollegin Zendaya und dem Model Bella Hadid. Der britische Hypothekenberater »Online Mortgage Advisor« ermittelte mit Hilfe von Google Streetview, welche britischen Städte die meisten Gebäude mit Proportionen aufweisen, die dem goldenen Schnitt entsprechen. Dem Ergebnis zufolge ist Chester die schönste britische Stadt, dicht gefolgt von London und Belfast.
Das mögen zwar unterhaltsame Neuigkeiten sein, aber mit Wissenschaft haben solche Untersuchungen nicht wirklich etwas zu tun. »Die Hinweise darauf, dass der goldene Schnitt besonders ansprechend sei, sind ziemlich dünn. Psychologische Studien, in denen Menschen verschiedene Rechtecke gezeigt wurden, deuten darauf hin, dass es eine große Bandbreite an Vorlieben gibt«, schreibt der Mathematiker Chris Budd von der University of Bath im »Plus Magazine«.
Andere Behauptungen lauten, der goldene Schnitt sei in der Natur omnipräsent. So würden die Proportionen des menschlichen Körpers (etwa die Körpergröße im Verhältnis zur Höhe des Bauchnabels) dem goldenen Schnitt (φ) folgen. Ebenso fände man φ in der Form von Perlbooten, in der Anordnung von Sonnenblumenkernen, in Wirbelstürmen und brechenden Wasserwellen. Allerdings sollte man mit solchen Aussagen vorsichtig sein, mahnen die drei französischen Biologen Teva Vernoux, Christophe Godin und Fabrice Besnard: »Häufig ergibt sich der Zahlenwert nur aus groben Rundungen, willkürlichen Ausgrenzungen oder Verzerrungen der Probenauswahl. Schließlich ist es nicht sehr schwer, einen Quotienten zu finden, der ungefähr 1,6 beträgt.« Mit dieser Kritik sind sie nicht allein.
Zurück zum Ursprung
Aber wie ist dieses Gerücht überhaupt entstanden? Um das zu verstehen, muss man weit in der Geschichte zurückreisen. Die ältesten Überlieferungen zum goldenen Schnitt stammen aus dem antiken Griechenland. Damals fragte sich der Gelehrte Euklid, wie man eine Linie der Länge L in zwei Abschnitte A und B unterteilen kann, so dass das Verhältnis von A zu B gleich dem Quotienten L zu A ist. Sprich: Die Gesamtlänge L verhält sich zum längeren Teilstück A wie A zu B.
Da L =A + B, lässt sich das als Gleichung ausformulieren: (A + B)/A = A/B = φ. Den ersten Term kann man umschreiben zu: (A + B)/A = 1 + B/A = 1 + 1/φ. Indem man das wieder in die ersten Gleichung einsetzt, ergibt sich: φ = 1 + 1/φ, was der quadratischen Formel φ2 − φ − 1 = 0 entspricht. Diese lässt sich durch die p-q-Formel lösen und man erhält: φ = ½± √(¼+1) = ½(1 ± √5). Da es in der ursprünglichen Fragestellung um Längenverhältnisse ging, kann man das negative Ergebnis ignorieren, also: φ = ½(1 + √5). φ ist also eine irrationale Zahl, die ungefähr 1,618 entspricht.
Euklid hatte diesen Wert zwar gefunden, richtig berühmt wurde der goldene Schnitt aber durch den Mathematiker Luca Pacioli, der im 16. Jahrhundert sein berühmtes Buch »Divina proportione« (Deutsch: »Göttliches Verhältnis«), illustriert von Leonardo da Vinci, danach benannte. Und hier kam es gemäß dem Physiker Mario Livio zu einem Missverständnis. Oft wird behauptet, Pacioli habe darin den goldenen Schnitt angepriesen, um angenehme, harmonische Formen zu erzeugen, obwohl der Mathematiker in Wirklichkeit ganz andere Proportionen bevorzugte.
Echte Ästhetik oder doch ein Rundungsfehler?
Einen richtigen Durchbruch abseits der Naturwissenschaften erlangte der goldene Schnitt in den 1860er Jahren durch die Arbeiten des deutschen Arztes und Psychologen Gustav Theodor Fechner. Er setzte Probanden Rechtecke mit unterschiedlichen Seitenverhältnissen vor und befragte sie, welche sie am angenehmsten empfanden. 76 Prozent entschieden sich für drei Rechtecke mit Seitenverhältnissen von 1,75; 1,62 und 1,50 – wobei die meisten sich für das »goldene Rechteck« mit einem Verhältnis von 1,62 entschieden.
Davon angetrieben untersuchte Fechner alle Rechtecke, die er in die Finger kriegen konnte: Fensterrahmen, Einbände von Büchern, Bilderrahmen und so weiter. Überall fand er in etwa den goldenen Schnitt wieder und sah dies als Beweis dafür an, dass Menschen diese Proportionen als besonders ästhetisch empfinden. Der britische Psychologe Ian McManus kam im Jahr 1980 zwar zu ähnlichen Ergebnissen wie Fechner, stellte allerdings klar: »Ob der goldene Schnitt per se im Gegensatz zu anderen Verhältnissen wie 1,5; 1,6 oder 1,75 bedeutend ist, ist unklar.«
Auch die Rolle des goldenen Schnitts bei der Attraktivität von Gesichtern ist noch nicht abschließend geklärt. 1990 hatte die Psychologin Judith H. Langlois zusammen mit Kolleginnen und Kollegen untersucht, welche Gesichter auf Menschen attraktiv wirken. Am besten schnitten bei diesem Experiment solche Porträts ab, die aus 16 oder 32 echten Bildern überlagert waren. Je durchschnittlicher (im wahren Wortsinn) ein Gesicht, desto angenehmer empfinden wir es offenbar. In genau diesen durchschnittlichen Porträts meinten einige, den goldenen Schnitt wiederzufinden. Immer wieder heißt es, schöne Gesichter wiesen Proportionen auf, die nahe bei φ liegen. Aber auch hier gilt: Der goldene Schnitt φ ist ein präziser Wert – es lässt sich also nicht beurteilen, ob Menschen tatsächlich ein Verhältnis von 1,6 oder 1,55 oder 1,63 ansprechender finden.
Der goldene Schnitt taucht selten in der Natur auf
Und auch in der Natur trifft man φ bei Weitem nicht so häufig an, wie es einige leichtfertig behaupten. Als Beispiel wird oft die spiralförmige Schale von Perlbooten genannt. Um zu verstehen, wie diese mit φ zusammenhängen soll, muss man sich das goldene Rechteck genauer ansehen. Dieses besitzt die Seitenlängen L und A, wobei L⁄A = φ.
Das Rechteck lässt sich in ein Quadrat mit Seitenlänge A und ein Rechteck mit den Seitenlängen A und B unterteilen – auch A und B haben das Größenverhältnis φ. Das AB-Rechteck kann man ebenfalls in ein Quadrat mit Seitenlänge B und ein kleineres Rechteck unterteilen. So kann man stets weitermachen. Am Ende ergeben sich innerhalb des goldenen Rechtecks immer kleinere Quadrate und Rechtecke, die ein Seitenverhältnis von φ besitzen.
Nun kann man in jedes Quadrat einen Viertelkreis einzeichnen. Dadurch entsteht eine spiralförmige Kurve. Und genau diese wird häufig mit Spiralen, die in der Natur erscheinen, assoziiert: von Perlbooten über Wirbelstürme bis hin zu brechenden Wellen. Das ist aber falsch. Denn streng genommen gibt es im goldenen Rechteck keine Spirale, sondern bloß aneinander gereihte Kreisbögen. An den Übergängen (also immer, wenn ein Kreisbogen auf einen kleineren trifft) bilden sie keine glatte Kurve, sondern sind leicht geknickt. Solche Unebenheiten trifft man in der Natur kaum an. Wie sich herausstellt, sind fast alle natürlichen Spiralen so genannte »logarithmische Spiralen«.
Die irrationalste aller irrationalen Zahlen
Dennoch ist der goldene Schnitt aus wissenschaftlicher Sicht durchaus interessant. Zum Beispiel wird φ von manchen Mathematikern als die »irrationalste« aller irrationalen Zahlen bezeichnet. Als ich das zum ersten Mal gehört habe, war ich überrascht. Denn die Eigenschaft »rational« oder »irrational« ist kein kontinuierliches Spektrum. Entweder ein Wert lässt sich als Bruch aus zwei ganzen Zahlen darstellen – oder eben nicht.
Tatsächlich kann man aber nicht alle irrationalen Zahlen gleich gut durch einen »einfachen« Bruch nähern. Nehmen wir zum Beispiel die Kreiszahl π: Eine gute Näherung für den irrationalen Wert ist 22⁄7, der erst in der dritten Nachkommastelle von π abweicht. Noch überzeugender ist aber der Bruch 355⁄113. Erst in der sechsten Nachkommastelle unterscheidet sich der Bruch von π.
Für den goldenen Schnitt gibt es allerdings keine derart einfachen Näherungen. Möchte man durch Bruchzahlen an φ herankommen, wachsen die in den Brüchen vorkommenden ganzen Zahlen rasant an. Wie sich herausstellt, lässt sich der goldene Schnitt nur sehr schlecht durch rationale Zahlen nähern – und gehört damit aus mathematischer Sicht zu den irrationalsten Zahlen überhaupt. Vielleicht sollte man also lieber darüber sprechen, um die Besonderheiten des goldenen Schnitts hervorzuheben. Aber wahrscheinlich erzeugt das weniger Aufmerksamkeit als süße Hunde oder attraktive Schauspielerinnen.
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