Grams' Sprechstunde: Amalgam gegen löchrige Argumente
Ende 2018 habe ich mich an dieser Stelle mit dem Thema Amalgam befasst oder besser den Mythen, die sich um die Zahnfüllungen ranken. Und wie manche in der Alternativheilkunde mit diesen Mythen ein Geschäft machen: Unzählige Websites warnen Informationssuchende vor der vermeintlichen Giftbombe im Mund. Da ist von »Mundbatterien« die Rede, von der »Ausleitung« des angeblich frei werdenden Quecksilbers aus dem Körper. Chlorella-Algen sollen helfen, Koriander ist dagegen zu vermeiden, nicht aber Coriandrum-Globuli. Denn die seien prima gegen die Zeitbombe im Zahn.
Wie fragwürdig das alles ist und wie weit entfernt von den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen, dazu habe ich mich in meiner Kolumne 2018 schon geäußert. Dass ich es nun wieder tue, hat einen guten Grund: Die EU überlegt, das Material mittelfristig komplett zu verbieten. »Aha!«, könnte man ausrufen, und viele, die mir Briefe und Mails schreiben, tun das auch, »dann ist also doch was dran an der ganzen Gefährlichkeit«.
Mir und meinem Text von 2018 wird dann Verharmlosung vorgeworfen, die »Amalgamindustrie« hätte die Kolumne (oder mich) gekauft, ich sei nicht kompetent genug, mich zu der Angelegenheit zu äußern. Natürlich gibt es Einzelfallberichte von schlimmen Schicksalen, die auf Amalgam zurückgeführt werden. Selbstverständlich muss genau hingeschaut werden. Aber aus solchen Einzelfällen ein Muster herzuleiten, ist riskant. Ob Amalgam schädlich ist oder nicht, erweist sich erst, wenn man sehr viele Fälle mit großer Sorgfalt und systematisch betrachtet. Das haben Fachleute wiederholt gemacht und eine wesentlich klarere Faktenlage aufgedeckt, als viele der mehr oder weniger wohlmeinenden Leserinnen und Leser glauben wollen.
Warum will die EU auf einmal Amalgam verbieten?
Auch die EU hat keinen plötzlichen Sinneswandel erlebt. Sie möchte gar nicht speziell das Dentalamalgam abschaffen. Ihr Ziel ist es, den allgemeinen Quecksilbereintrag in die Umwelt zu reduzieren. Denn natürlich ist das im Zahnamalgam enthaltene Quecksilber für den Menschen hochtoxisch und ein bedeutendes Umweltgift.
Deshalb reguliert sie völlig zu Recht die Verwendung von Quecksilber in Produkten und industriellen Prozessen, kleingewerblichem Goldbergbau und Goldaufbereitung, der Kohleverbrennung und der Bewirtschaftung von Quecksilberabfällen. Natürlich muss dabei auch das Material, das in Abermillionen Zähnen steckt, betrachtet werden. Denn selbst wenn es nur noch selten eingesetzt wird, macht der Altbestand in den Gebissen der Europäerinnen und Europäer einen beträchtlichen Anteil des europaweit kursierenden Quecksilbers aus.
Das ist aber auch schon der springende Punkt: Die Verarbeitung ist es, die der EU Sorge bereitet. Wenn das Amalgam für die Belieferung der Praxen hergestellt wird, kann Quecksilber in die Umwelt gelangen. Wenn Verstorbene samt ihrer Füllungen eingeäschert werden, treten Quecksilberdämpfe aus. Und sogar in den Praxen kann Quecksilber ins Kanalnetz gelangen, wenn die eigentlich vorgeschriebenen Filter defekt sind oder fehlen. Um diese Quellen zu reduzieren, fordern auch Umweltverbände seit Langem ein Ende fürs Amalgam.
Keine Hinweise auf Gesundheitsgefahren
In einer Füllung im Mund ist das Quecksilber jedoch fest gebunden und wird nur in geringsten Mengen freigesetzt. Schon im Jahr 2015 hat das Scientific Committee on Emerging and Newly Identified Health Risks (SCENIHR) der EU klar festgestellt: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass von korrekt verarbeiteten Amalgamfüllungen eine Gesundheitsgefahr ausgeht. Auch die jüngst beschworene Gefahr durch Quecksilberdämpfe, die bei der Verarbeitung des Füllungsmaterials entstehen, ist bei einer korrekten Anwendung von verkapseltem Amalgam (seit Jahren in Deutschland Standard und gesetzlich vorgeschrieben) nicht gegeben. Das hat unlängst im Januar 2021 die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung in den von ihr festgelegten Arbeitsstandards für Zahnarztpraxen noch einmal deutlich gemacht. Dass seit dem Jahr 2018 alle Kinder unter 15 Jahren sowie Stillende und Schwangere nur noch in Ausnahmefällen Amalgamfüllungen bekommen dürfen, hat weniger mit wissenschaftlicher Evidenz als mit vorbeugendem Gesundheitsschutz zu tun.
Eine wirkliche Gefahr kann dann entstehen, und auch das ist klar, wenn beim Legen oder dem Austausch von defekten Amalgamfüllungen die gebotenen Standards nicht eingehalten werden. Und gefährlich kann es erst recht dann werden, wenn ohne zahnmedizinische Notwendigkeit intakte Amalgamfüllungen ausgetauscht werden. Gerade das wird aber von Seiten der alternativen Zahnheilkunde oft propagiert. Die dabei entstehenden Gesundheitsgefahren sollen dann zum Beispiel mit Bärlauch- und Coriandrum-Globuli reduziert werden, alternativ könne man das Amalgam vorab mit Taurin, Vitamin C oder mit Ozon angereichertem Venenblut aus dem Körper ausleiten. Hier wird dem Patienten ein Dienst mit genau jenem Bären erwiesen, den man ihm zuvor aufgebunden hat. Denn es ist äußerst fraglich, ob auch nur eine dieser Maßnahmen irgendetwas gegen das Risiko einer anlasslosen Amalgamentfernung ausrichten kann.
Beim Amalgam wird ein Geschäft mit der Angst gemacht. Eben darauf zielte meine erste Kolumne ab, und in diesem Zusammenhang sprach ich von »Amalgammythen« und unnötigen Ängsten.
Obwohl das Amalgam heute nur noch eine untergeordnete Rolle spielt und allein aus ästhetischen Gründen zu einem Nischenphänomen werden dürfte, soll und darf darüber diskutiert werden – auch Fachleute tun dies. Die alternativen Füllungsmaterialien verdienen übrigens ebenfalls einen kritischen Blick. Die mit dem Amalgam verbundenen Sorgen und Ängste der Patientinnen und Patienten und natürlich der Mitarbeitenden in Zahnarztpraxen müssen ernst genommen werden. Aber bitte nicht auf Basis von Behauptungen und persönlichen Unterstellungen. Die beste Füllung für unsere Wissenslücken sind nach wie vor Fakten. Denn nur so geht »echt gute Medizin«.
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