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Grams' Sprechstunde: Guter Neujahrsvorsatz: Kein »Mir hat es aber geholfen« mehr!

Unsere Kolumnistin Natalie Grams-Nobmann plädiert in ihrer Neujahrskolumne dafür, persönlich erlebte Wirksamkeit oder Schädlichkeit von Medikamenten nicht zu generalisieren. Gesundheitskompetenz ist für alle da, entsteht aber nicht durch die Empfindungen von allen.
Bachblütentherapie

Zum Jahresanfang poste ich in angepasster Form immer wieder den gleichen Tweet:

— Natalie Grams-Nobmann (@NatalieGrams) January 1, 2022

Das kommt auf Twitter jedes Mal gut an, doch es passiert auch immer wieder das Gleiche. Einzelne Lesende picken sich eines der genannten alternativen Therapieverfahren heraus und sagen so etwas wie: »Das ist aber ungerecht, dass das in dieser Liste ist. Das hat mir geholfen!«

Ich habe also einen Neujahrswunsch! Das eigene Erleben, sei es positiv oder negativ, nicht zum Maß der Dinge zu machen, wenn es um die Wirksamkeit (oder Unwirksamkeit) eines Verfahrens oder eines Mittels geht.

Natürlich kann einem niemand die persönliche, individuelle Erfahrung nehmen. Wenn es Ihnen besser geht, nachdem Sie ein Mittel eingenommen oder eine Methode angewendet haben: toll! Darüber darf und soll man sich freuen! Und wenn es Ihnen schlechter geht, dann hilft es überhaupt nicht weiter zu hören, dass das nun eben Pech war oder eine sehr, sehr seltene Nebenwirkung. Es geht Ihnen dann schlecht, und das sollte niemand relativieren.

Was kann die moderne Medizin leisten? Nutzt die Homöopathie? Was macht einen guten Arzt aus, und welche Rolle spielt der Patient? Die Ärztin und Autorin des Buchs »Was wirklich wirkt« Natalie Grams diskutiert in ihrer Kolumne »Grams' Sprechstunde« Entwicklungen, Probleme und eklatante Missstände ihrer Zunft. Alle Teile lesen Sie hier.

Wahr ist allerdings auch: Nur weil bei einer Person eine Krankheit verschwindet oder sich die Symptome bessern, nachdem sie zum Beispiel ein paar Globuli eingenommen hat, bedeutet das nicht automatisch, dass die Einnahme der Globuli tatsächlich die Ursache der gesundheitlichen Verbesserung war. Genauso muss eine Verschlechterung des Befindens nach der Einnahme eines Mittels nicht auf das Konto des Mittels gehen – oder generell bedeuten, dass das Mittel nicht wirkt oder gar schadet. Wir müssen endlich aufhören, unseren Einzelfall über die Evidenz zu stellen.

Stattdessen würde es helfen, sich die Gesamtevidenzlage anzusehen, bevor man urteilt. Bei der Homöopathie zum Beispiel wissen wir, dass die Wirkung nicht über den Placeboeffekt hinausgehen kann. Weitere Faktoren können dazukommen: die vergangene Zeit, die das Immunsystem arbeiten konnte, die Tatsache, dass man vielleicht auch noch andere Dinge eingenommen hat, das natürliche Abebben im Krankheitsverlauf, eine positive Erwartungshaltung oder positive Vorerfahrungen und so weiter. Das wurde ja oft genug erklärt. Jeder kann nur ein Urteil für sich persönlich fällen: »Mir hat es geholfen!« Das heißt aber nicht: Das Verfahren ist wirksam. Für die Verbesserung können viele Faktoren verantwortlich gewesen sein. Es ist auch nicht möglich zu beurteilen, was passiert wäre, wenn man nichts genommen oder etwas anderes getan hätte.

Um zu wissen, was wirklich wirkt, müssen subjektive Erfahrung und objektives Urteil klar auseinandergehalten werden. Was nicht hilft, sind Sätze wie: »Also, Osteopathie muss wirksam sein, weil ich da doch diese supergute Osteopathin kenne, die ganz bestimmt nicht verschwurbelt ist, und danach ging es meinem Rücken echt besser …!«

Warum ist mir das so wichtig? Natürlich freue ich mich für jeden Menschen, dem es besser geht – egal wie. Aber wir sehen ja zum Beispiel bei den Impfstoffen gegen Covid-19, dass eine individuelle Beurteilung sehr problematisch sein kann. »Die Wirksamkeit« kann man selbst fast gar nicht beurteilen: Wenn die Impfung funktioniert, bekommt man »die Wirksamkeit« nicht mit, man bekommt die Erkrankung einfach nicht. Oder nicht so schwer, doch der Vergleich, wie »schwer« es ohne »Wirksamkeit« gewesen wäre, ist eben auch nicht möglich. Wirksamkeit kann nicht individuell, sondern nur mit großen Vergleichsgruppen festgestellt werden, von denen eine den Impfstoff erhält und die andere ein Placebo. Danach muss objektiv ausgewertet werden, wie sich in den beiden Gruppen die Infektionszahlen und die Krankheitsschwere unterscheiden.

Ebenso ist es beim Bewerten von Nebenwirkungen: Aus individuellem Erleben kann schwerlich auf das Ganze geschlossen werden. Wer das (große) Pech hat, eine seltene Nebenwirkung zu erleiden, muss zum Beispiel eine Herzmuskelentzündung durchstehen und verflucht die Impfung subjektiv zu Recht. Viele, viele andere erleiden aber eben keine Nebenwirkung und profitieren vom Impfschutz. Deshalb ist es auch nicht hilfreich, die individuelle Furcht von Nebenwirkungen zu verallgemeinern, statt die Datenlage zu beachten. Genau zu diesen Zwecken wurde der ganze Bums mit den Zulassungs- und klinischen Studien ja eingeführt – weil bekannt ist, wie sehr das subjektive Urteil täuschen kann.

Meinungs- gegen Faktenfreiheit

Natürlich kann sich nicht jeder und jede mit der aktuellen Evidenzlage verschiedenster Verfahren auskennen. Dann bleibt nur die Bescheidenheit, sich mit einer persönlichen Einschätzung, was die Wirksamkeit angeht, zurückzuhalten. Und wer jetzt Sorge hat, dass dadurch die Meinungsfreiheit beeinträchtigt würde, dem sei gesagt: Das Recht auf eine eigene Meinung wird niemanden genommen, wenn man darum gebeten wird, erst einmal zu schauen, wie sich diese Meinung in die Gesamtlage einordnet, bevor man sie äußert. Im Zweifel liegt man nach dieser Analyse mit der eigenen Meinung nämlich richtiger – und damit wäre uns allen geholfen. Und bei jedem Recht auf Meinungsfreiheit besteht eben keine Faktenfreiheit. Wirksamkeit lässt sich überprüfen, die Sicherheit auch. Danach sollten wir urteilen.

Einfach ist das nicht: Das eigene Erleben ist uns sehr nah, »wir haben es doch live erlebt!«, wissenschaftliche Evidenz ist abstrakt und viel weiter weg. Sie ist uns auch recht schnell egal, wenn wir nach Jahren mit Schmerzen bei dem einen tollen Therapeuten mit Verfahren XY waren und es uns danach besser ging. Hier habe ich ein gute Nachricht: Es darf uns auch egal sein! Jedoch nur, hier die schlechte Nachricht, solange wir keinen generellen Wirksamkeits-Claim mit unserem persönlichen Erleben verbinden. Auch das ist nicht leicht: Bestimmt muss man sich dafür recht oft auf die Zunge beißen und die Finger von der Tastatur nehmen. Aber erinnern Sie sich – und gerne auch Ihre Mitmenschen – lieber an den Blick auf wissenschaftliche Plausibilität und Evidenz vor einer Empfehlung. Zwar ist Gesundheitskompetenz für uns alle da, sie entsteht allerdings nicht einfach durch das individuelle Empfinden von uns allen.

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