Grams' Sprechstunde: Wirklich ganzheitliche Ganzheitlichkeit
Im Feld der selbst ernannten »Alternativmedizin« wird der Begriff »Ganzheitlichkeit« häufig zur wohlklingenden, suggestiven Worthülse. Marketing halt. Die wissenschaftsfundierte Medizin ist konkreter: Ein ganzheitlicher Ansatz meint hier, psychosomatische Faktoren für das Entstehen einer Krankheit mit einzubeziehen oder der Lehre vom Gesundbleiben und -werden zu folgen, der Salutogenese. Ganzheitlichkeit kann allerdings noch weiter gefasst werden und sollte es wohl auch. Denn es geht um viel mehr: Es geht um »One Health«.
Wait. What? Hinter »One Health« verbirgt sich der Gedanke einer untrennbaren Verbindung von menschlicher Gesundheit und der »Gesundheit« des Planeten, auf dem wir alle gemeinsam leben. Die Erde macht unser Leben überhaupt erst möglich – noch, denn Klimawandel, Ressourcenverbrauch, Bevölkerungsentwicklung, Energienutzung oder Pandemien bedrohen ein sensibles Gleichgewicht zu unseren Ungunsten.
Das ist nicht neu, Sie werden das schon einmal gehört haben, vielleicht auch schon zu oft. Man muss sich aber klarmachen, dass hier nicht globale, abstrakte, allgemeine Herausforderungen auf ein vages »uns« zukommen, sondern ganz konkrete Folgen für jeden Einzelnen und seine Gesundheit. Wir haben das längst zu spüren bekommen. Eckart von Hirschhausen hat mir gerade in einem gemeinsamen Podcast erläutert, warum ihm »One Health« als Gedanke so wichtig geworden ist. Wäre unsere Erde eine Patientin, meint er, so müsste sie sofort und mit Multiorganversagen auf die Intensivstation. Ich füge hinzu: und wir bald hinterher.
So steigt etwa weltweit die Durchschnittstemperatur: Die letzten sieben Jahre brachten die heißesten Sommer seit der Aufzeichnung systematischer Wetterdaten. Das hat Auswirkungen, die so manches durchaus ernste Problem in unserem Gesundheitswesen im Vergleich unbedeutend erscheinen lässt. Die Gesundheit zahlreicher Menschen, nicht nur älterer, leidet unter der Hitze, und es gab bereits erschreckend viele Todesfälle. Wenn Sommer mit Temperaturrekorden zum Regelfall werden – ist die Medizin darauf vorbereitet? Ist es die Infrastruktur von Pflegeheimen und Krankenhäusern, um vielleicht die Folgen der Hitze mit gewaltigem Aufwand wegzukühlen? Das würde Schwierigkeiten mit der Energieversorgung verschärfen, denn die uns bevorstehenden Probleme sind verschränkt. Dumme Sache.
Oder nehmen wir virusbedingte Pandemien. Pandemien wie die derzeitige sind unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Lebensraum wild lebender Tiere schrumpft – auch dies eine Folge des Klimawandels und der Bevölkerungsentwicklung. Gerade in den ost- und südostasiatischen Ländern müssen Menschen ihrem täglichen Auskommen den Vorzug vor globalen Überlegungen geben. Das dürfte sich so bald nicht ändern, und so können wir uns schon mal merken: Wahrscheinlich ist nach der Pandemie vor der Pandemie. Wir müssen vermuten, dass der nächste Erreger bereits in den Startlöchern steht, während wir mit Sars-CoV-2 noch gar nicht fertiggeworden sind. Die Globalisierung und die ungeheure Mobilität unserer Zeit sind Garanten dafür, dass sich solche Ereignisse kaum mehr regional eingrenzen lassen werden. Wir haben es erlebt und erleben es bei der Ausbreitung der Omikron-Variante gerade wieder – q. e. d. Ach, und wer von Pandemien nichts mehr hören möchte, liest beim RKI: »Auch im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen ist der ›One-Health‹-Ansatz zentral. Resistenzen kennen keine Grenzen und können sich zwischen Mensch, Tier und Umwelt rasch verbreiten.«
Wahre Ganzheitlichkeit – also den Blick über den eigenen Tellerrand hinaus – vermisse ich, wenn ich mir die Reaktionen anschaue, die nach der Problemanalyse folgen. Und ich habe den Eindruck, dass gerade der medizinisch-gesundheitliche Aspekt von »One Health« in der Politik und vielleicht auch in der Wissenschaft viel zu kurz kommt. Aber beim Klimawandel geht es eben nicht nur um die Überschwemmung von Küstengebieten und den Verlust von Siedlungsraum, irgendwo, wo es mich vorerst vielleicht gar nicht betrifft. Bei der Landwirtschaft der Zukunft geht es nicht allein um einen Streit zwischen den Vertretern verschiedener Anbaumethoden und die Nutzung von Pestiziden, was mir womöglich egal ist. Wir müssen lernen und einsehen, dass diese Probleme zusammenhängen – und sich am Ende deshalb ganz konkret auf uns, auf jeden Einzelnen und jede Einzelne von uns, beziehen.
Auch die Medizin steht hier vor einer gewaltigen Herausforderung und reagiert etwa, indem sie das Fachgebiet der Umweltmedizin stärkt. Es gilt aber, das Steuer wirklich nachhaltig mit verschiedenen Ansätzen herumzureißen. Allerdings: Wie diese Pandemie politisch angegangen wird, macht mir da national wie international nicht gerade Hoffnung. Das Krisenmanagement wirkt, als schwanke es zwischen Augenzukneifen und Aktionismus und sei von viel zu viel politischem Kalkül bestimmt. Einen Plan, einen wirklichen Plan, scheint es für keine der beiden Krisen zu geben – oder es reicht halt nicht.
Ein konsequent ganzheitlicher Blick auf die Probleme der Zeit ist nicht leicht auszuhalten: Auch ich bin erst einmal ernsthaft erschrocken, als ich ihn gewagt habe. Nicht nur als Mutter von drei Kindern bin ich alles andere als leidenschaftslos, was unsere, also ihre Zukunft angeht. Was wir jedoch nicht brauchen: Panik. Sie macht kopflos. Wir brauchen Prävention. Und zwar jetzt. Denn es könnte für eine Therapie zu spät sein, wenn sich die drastischen Auswirkungen globaler Ungleichgewichte und Verschiebungen auf die menschliche Gesundheit einmal manifestiert haben.
Prävention, Vorbeugung, Vorsorge – sie erhalten im Rahmen des »One-Health«-Konzepts einen ganz neuen Stellenwert. Es geht darum zu handeln, solange alles noch ganz okay erscheint. Wie letztlich bei Corona auch. Wir müssen Maßnahmen festlegen, solange die Inzidenzen noch unten sind, um Schlimmes zu vermeiden. Wir sollten uns impfen lassen, um einem schweren Verlauf und der unverminderten Weitergabe des Virus vorzubeugen. Wir halten uns besser an AHA-Regeln, um die Ansteckungsrate möglichst niedrig zu halten – weil wir wissen und absehen können, was sonst passiert.
Die Alternative zur Prävention ist, alles laufen zu lassen. Klar, das ginge, doch dann müssten viel mehr Menschen auf Intensivstation und dort mit harten Therapien behandelt werden – zu oft ist ihr Leben dann nicht mehr zu retten. Generell sorgt fehlende Prävention häufig dafür, dass es für Therapien leider schnell zu spät ist. Besser denken wir also an den Worst Case und versuchen, ihn vorausblickend zu vermeiden. Im besten Fall denken wir dabei ganzheitlich: nicht nur an uns, sondern auch an andere.
In der Pandemie denken viele schon so. Zum Glück die Mehrheit. Ob es reicht, werden wir in den nächsten Wochen sehen. Und dann werden wir uns nach den letzten echt harten Jahren entspannt zurücklehnen wollen. Total verständlich. Aber leider: Die Klimakrise wird in ein paar Wochen und Monaten noch da sein. Dagegen sind viel größere, gemeinsame Anstrengungen nötig – nicht nur wegen der Erde, sondern vor allem wegen uns selbst. Eine Erde – eine Gesundheit.
Noch einmal ganz genau selbst nachdenken sollten darüber gerade die Zukunftswunschdenkenden: die, die den Klimawandel für wahrscheinlich gar nicht so schlimm halten, bei denen der Strom nach wie vor einwandfrei aus der Steckdose kommt. Und deren »robustem Immunsystem« ein paar Globuli noch immer geholfen haben. Auch auf sie kommt etwas zu. Es wäre nun an der Zeit, den ganzheitlichen Gedanken zu leben – und dadurch Leben zu schützen.
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