Freistetters Formelwelt: Die einfachste Summe der Welt
Luigi Guido Grandi war ein italienischer Mönch, Theologe und Philosoph, der sich auch für Mathematik interessiert hat. Im 18. Jahrhundert beschäftigte er sich unter anderem mit dieser Reihe:
Die rechte Seite der Formel ist absichtlich leer, denn es ist gar nicht so einfach, eine Lösung zu finden. Obwohl es auf den ersten Blick nicht so aussieht: Grandi hat hier einfach nur abwechselnd die Zahl 1 addiert beziehungsweise subtrahiert. Ausgeschrieben ist also die Summe von 1 – 1 + 1 – 1 + 1 – 1 + 1 – 1 + 1 – 1… gesucht. Man fängt mit 1 an und zieht davon 1 ab. Dann kommt wieder 1 dazu und wird erneut abgezogen. Und so weiter. Man könnte also auf die Idee kommen, dass die Summe gleich null sein muss. Mathematisch kann man das durch das Setzen von Klammern deutlich machen: (1 – 1) + (1 – 1) + (1 – 1) +… Aber man kann die Klammern auch anders setzen, nämlich so: 1 + (– 1 + 1) + (– 1 + 1) + … Das würde nahelegen, dass der Wert der Summe gleich 1 ist.
Grandi selbst wies der Summe daher einen Wert von ½ zu und sah die Reihe als Beweis dafür an, dass Gott die Welt aus dem Nichts erschaffen kann. Sieht man einmal von dieser fragwürdigen Verbindung von Religion und Mathematik ab, bleibt immer noch die paradoxe Situation, dass der Wert der Summe davon abzuhängen scheint, in welcher Reihenfolge man sie auswertet. Man kann sogar Grandis Wert von ½ mathematisch ableiten. Dazu bezeichnet man zuerst den unbekannten Wert der Summe als S, schreibt also S = 1 – 1 + 1 – 1 + ... Daraus folgt 1 –S = 1 – (1 – 1 + 1 – 1 + ...) = 1 – 1 + 1 – 1 + ... = S oder S = ½.
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Die scheinbar simplen Additionen und Subtraktionen der Zahl 1 verstellen den Blick auf das eigentliche Problem. Die Grandi-Reihe ist divergent; das bedeutet, die (unendliche) Abfolge der Partialsummen nähert sich keinem Grenzwert an; daher kann ihr eigentlich gar keine Summe zugewiesen werden.
Wie berechnet man den Grenzwert einer divergenten Reihe?
Um solche divergenten Reihen trotzdem analysieren zu können, wurden nach und nach verschiedene Methoden entwickelt, mit denen sich die Ideen von Grandi und seinen Zeitgenossen auf eine mathematisch exakte Basis stellen lassen. Der Italiener Ernesto Cesàro entwickelte zum Beispiel im 19. Jahrhundert das, was heute nach ihm als Cesàro-Summe bezeichnet wird. Dazu bildet man zuerst die Partialsummen der Reihe, im Beispiel von Grandi also die Folge (1,0,1,0,…). Mit diesen Partialsummen bildet man nun die arithmetischen Mittel der ersten n Partialsummen. Für n = 1 ist das 1, für n = 2 ist das Mittel ½ (da 1 + 0⁄2 = ½), für n = 3 erhält man das Mittel 1 + 0 + 1⁄3 = ⅔ und so weiter. Diese Folge konvergiert gegen den Grenzwert ½. Wenn so ein Grenzwert existiert, wird er als Cesàro-Summe bezeichnet.
In der Mathematik sind Methoden wie die von Cesàro durchaus nützlich. Obwohl die Grandi-Reihe ihren Ursprung in den Gedanken eines italienischen Theologen hat, taucht sie in unterschiedlichsten Bereichen auf. Man findet sie in der Fourier-Analyse ebenso wie in der Topologie. Sogar bei diversen teilchenphysikalischen Problemen ist sie zu entdecken, zum Beispiel bei Quantenfeldern mit positiven und negativen Eigenwerten.
Trotz der mittlerweile rigorosen Methoden zur mathematischen Behandlung solcher Reihen bleibt allerdings ein leichtes Unbehagen zurück. Es sind doch nur ein paar Einsen – wie kann das zu so einem Problem werden? Im Lauf der Geschichte haben sich immerhin auch große Mathematiker wie Leibniz oder Euler damit auseinandergesetzt und darüber gestritten, wie die Reihe zu interpretieren ist. Wir Menschen sind eben nicht für die Unendlichkeit gemacht, selbst wenn sie als harmlose Folge von Einsen daherkommt.
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