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Sex Matters: Stell dich nicht so an!

Wer beim Sex etwas nicht möchte, hat oft ein schlechtes Gewissen. Der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller erklärt, warum ein Nein im Bett ein Ja zur Beziehung sein kann. Eine Kolumne.
Illustration einer Pistole, die drei verschiedenfarbige Herzen aus dem Lauf schießt.
Ich will ja wollen – viele tun dem Partner zuliebe Dinge, die ihnen nicht gefallen.

»Neulich war ich mit meiner Frau eine Woche am Meer. Vorher war monatelang Flaute im Bett, aber dort war es anders. Wir sind mit dem Fahrrad durch die Dünen gefahren und haben eine ruhige Bucht gefunden, wo wir endlich wieder Sex hatten. Astrid war glücklich. Zu Hause haben wir versucht, dieses Outdoor-Ding zu wiederholen, an einem See. Sie wollte es unbedingt. Wir haben es ein paar Mal probiert, aber ich bin total verkrampft. Meine Frau sagt, ich stelle mich an. Bin ich das Problem? (Torge*, 47, und Astrid*, 39)

Es hätte so schön sein können. Die letzten Sonnentage nutzen und ab ans Baggerloch zum Sex unter freiem Himmel. Nur blöd, wenn der Partner nicht mitzieht. »Ich hätte so gern, dass Torge sich entspannt«, sagte Astrid beim ersten Besuch der beiden in meiner Praxis. »Im Urlaub war es doch so gut.« Astrid verstand überhaupt nicht, warum Torge sich beim Sex im Freien plötzlich so anstellte. Sie witterte eine Verweigerungshaltung: »Dir hat es doch auch gefallen, oder?« Torge zuckte mit den Schultern. Ihm fehlten die Worte, um zu erklären, was genau sein Problem war. Ziemlich klar schien ihm dagegen, dass er die Schuld an dem Konflikt trug, der sich daraus entwickelt hatte. Der Sex im Urlaub war zu einer unerbittlichen Messlatte geworden.

Wie konnte es sein, dass der Outdoor-Sex beim einen Mal so toll war und dann wieder ein totaler Reinfall? Ich ermutigte beide, zu ergründen, was genau im Urlaub den Reiz ausgemacht hatte. »Mich hat das Gefühl erregt, dass uns jemand beobachten könnte«, sagte Astrid. Die Öffentlichkeit gab ihr einen besonderen Kick, und sie genoss das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Bei Torge war es ganz anders. Er mochte den Moment am Strand, weil er sich seiner Frau dabei sehr nah fühlte. Die Bucht erschien ihm so einsam, dass er gar nicht auf die Idee kam, dort könnten noch andere Menschen sein: »Es war, als wäre die Welt um uns herum verschwunden.«

Und dann, am heimischen See? Astrid: »Da waren Spaziergänger. Die hätten uns sehen können. Das fand ich aufregend.« Torge: »Der Gedanke, dass uns jemand erwischt, war mir unangenehm. Am Ende sogar unsere Nachbarin Jenny, die ich am nächsten Tag im Supermarkt treffe. Total peinlich.« Astrid erregte also gerade die Vorstellung, beobachtet zu werden. Torge hingegen brauchte die Sicherheit, dass der Sex Privatsache blieb.

Sex funktioniert nicht, wenn man Grenzen ignoriert

Treten wir einen Schritt zurück – worum geht es hier? Es geht um unterschiedliche Bedürfnisse. Sexualität ist nun mal ein Bereich, in dem Menschen verschieden ticken. Was uns gefällt, steuern wir nicht über den Verstand. Es ist wie beim Essen: Der eine mag scharfe Peperoni auf der Pizza, der andere milden Mozzarella. Und niemand isst auf Dauer gern eine Pizza, die ihm nicht schmeckt. Auch im Bett hat jeder Mensch eigene Vorlieben – und Grenzen.

Torge spürte, dass da für ihn etwas nicht passt. Trotzdem erschien beiden Torges Abneigung gegen den Sex am See irgendwie falsch. Er überlegte, was er tun könnte, um sich zu ändern, denn es ist ihm wichtig, Astrids Wünsche zu erfüllen. Eigentlich eine schöne Sache, wenn der Partner seine Partnerin glücklich machen will. Wenn er, um ihr in Sachen Lust einen Gefallen zu tun, etwas Neues ausprobiert. Viele Paare erleben das zum Beispiel wenn es um Dreier oder Fesselspiele geht. Wenn der Partner etwas Besonderes für uns gekocht hat, probieren wir es ja auch. Dumm nur, wenn wir beim zweiten Bissen merken, dass es doch nicht unser Fall ist. Dann stellt sich die Frage: Wie sage ich Nein, ohne den anderen zu verletzen?

Ein Nein war ein Risiko

Ich stellte Torge eine provokante Frage: »Glauben Sie, dass Ihre Partnerin Sie weniger liebt, weil Sie keinen Sex am See haben wollen?« Seine Antwort: »Na ja, ein bisschen Sorgen macht es mir schon. Ich weiß, dass Sex für sie wichtig ist.« Grenzen zu setzen bedeutete für Torge, die Beziehung zu bedrohen. Ein Nein war für ihn ein Risiko. Das erlebe ich immer wieder bei Menschen, die in meine Praxis kommen. Ich fragte Astrid: »Erwarten Sie von Ihrem Mann, dass er über seine Grenzen geht? Oder darf er auch mal nein sagen?« So eine direkte Frage schafft Klarheit, denn kaum jemand will Grenzen überschreiten. Ich fragte sie auch nach ihren eigenen Grenzen. Denn wenn Menschen diese spüren, fällt es ihnen oft leichter, ein fremdes Nein zu akzeptieren. Astrid zum Beispiel weigerte sich in einer früheren Beziehung, Analsex zu haben, weil es ihr nicht gefiel.

Kommunikation schärft das Bewusstsein dafür, wie wichtig Konsens beim Sex ist. Allen wird klar, dass niemand gezwungen werden sollte, seine Grenzen zu überschreiten. Reden hilft Paaren aber auch, Wege zu finden, einvernehmlich neue Bereiche ihrer Sexualität zu erkunden. Mit Astrid und Torge habe ich eine Lösung gefunden, die beiden gerecht wird. Der Sex im Freien wurde in den Garten eines abgelegenen Ferienhauses verlegt. Dort fühlte sich Torge sicher und Astrid bekam ihren Kick. Beide konnten es genießen, ohne über ihre Grenzen zu gehen.

* Namen von der Redaktion geändert

Und nun sind Sie dran:

Wie kann man ohne schlechtes Gewissen Grenzen setzen? Stellen Sie sich eine Freundin vor, die sich sexuell unter Druck gesetzt fühlt: Sie will eigentlich etwas anderes, als ihr Bettpartner von ihr erwartet, und weiß nicht, wie sie sich durchsetzen soll. Mit welcher Geschichte aus Ihrem eigenen Leben würden Sie Ihrer Freundin Mut machen, dass es völlig in Ordnung ist, nein zu sagen?

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