Die fabelhafte Welt der Mathematik: Die größte Kontroverse der Mathematik
Backen ist leider so gar nicht meine Stärke. Wenn ich also nachmittags Besuch bekomme, flitze ich kurz vorher in eine Bäckerei und habe dann nur noch die Qual der Wahl. Angesichts der riesigen Auswahl an appetitlichen Kuchen und Torten fällt es mir meistens schwer, mich zu entscheiden. Meine Strategie besteht in der Regel darin, zu sagen: »Ach, packen Sie mir doch von jedem eins ein.«
Diese Entscheidungslosigkeit hat in der Vergangenheit heftige Debatten in der Mathematik ausgelöst.
Zugegeben: Es ist nicht meine mangelnde Entschlussfähigkeit beim Bäcker, die Mathematiker ärgert (es sei denn, sie stehen hinter mir an der Schlange). Nein, was Anfang des 20. Jahrhunderts die Mathematik-Community wirklich gespalten hat – und es teilweise noch heute tut –, ist das so genannte Auswahlaxiom. Dabei handelt es sich um eine unbewiesene Grundwahrheit. Sie besagt, dass ich genau das Geschilderte machen kann: von beliebig vielen verschiedenen Kuchen und Torten genau ein Stück auswählen und mit nach Hause nehmen.
Das klingt zunächst erst mal nicht allzu verrückt: Warum sollte das gegen mathematische Prinzipien verstoßen? Wie sich herausstellt, sehen die meisten Fachleute das Problem nicht im Auswahlaxiom an sich, sondern in dem, was daraus folgt. Denn das Auswahlaxiom führt zu anscheinend widersprüchlichen Ergebnissen: etwa, dass man eine Kugel auf »magische« Weise verdoppeln kann oder dass es endliche Objekte gibt, die sich nicht vermessen lassen. Deswegen geben einige Fachleute oft extra an, wenn sie in einem Beweis das Auswahlaxiom genutzt haben – und es gibt sogar Strömungen in der Mathematik, die versuchen, das Fach ohne Auswahlaxiom neu aufzubauen. Allerdings ist eine Welt ohne Auswahlaxiom noch viel seltsamer.
Grundlage der Mathematik
Um die Streitigkeiten zu verstehen, muss man zunächst wissen, was die Mathematik von den anderen Naturwissenschaften unterscheidet: ihr Fundament. Ende des 19. Jahrhunderts erkannten Mathematiker, dass sie sich auf eine gemeinsame Grundlage einigen müssten – ein paar Grundwahrheiten samt Regelwerk, so dass man daraus alle Erkenntnisse des Fachs ableiten kann: von 1 + 1 = 2 über komplizierte Integrale bis hin zu statistischen Aussagen. Wenn man sich auf ein gemeinsames Fundament festlegt, lässt sich anhand des Regelwerks jede Aussage und jeder Beweis eindeutig prüfen. Ein guter Ausgangspunkt für die Formulierung des Fundaments schien damals die Mengenlehre.
Die Fachleute mussten sich auf einen Satz Grundwahrheiten einigen, die wahr sind, ohne dass man das je beweisen könnte. Ein Beispiel für eine solche Grundwahrheit, ein so genanntes Axiom, ist: Es gibt eine leere Menge. Es erfüllt alle Ansprüche, die Axiome haben sollten; es ist kurz, es ist präzise, es definiert ein eindeutiges Objekt, und es steht außer Frage, dass es wahr ist. Also suchten Mathematikerinnen und Mathematiker nach weiteren Axiomen, in der Hoffnung, ein möglichst simples, kurzes Regelwerk zu finden, aus dem sich letztlich das gesamte Fach aufbaut.
Und sie waren erfolgreich. Aus ihrer Bemühung entstand das so genannte Zermelo-Fraenkel-Axiomensystem, bestehend aus acht Grundwahrheiten. All diese Axiome besagen, dass es bestimmte Mengen gibt, beispielsweise die leere Menge oder die Potenzmenge einer Menge. Und diese sind durch die Axiome stets eindeutig festgelegt. Doch der Mathematiker Ernst Zermelo merkte schnell, dass diese acht Grundwahrheiten nicht ausreichen. 1904 führte er daher auch noch das Auswahlaxiom ein. Damit begannen die Streitigkeiten.
Man hat immer eine Wahl
Das Auswahlaxiom erlaubt es, aus einer Reihe von nichtleeren Mengen jeweils ein Element auszuwählen. So, wie ich beim Bäcker eine Kostprobe mehrerer Kuchen haben kann. Es scheint zunächst nur natürlich, dass das möglich ist. Allerdings begrenzt sich das Auswahlaxiom nicht auf endliche Fälle: Auch wenn es unendlich viele Kuchen gibt, erlaubt es das Auswahlaxiom, je ein Stück herauszugreifen. Das Axiom besagt, dass es eine Vorschrift gibt, die ich dem Bäcker mitteilen kann, so dass ich jeden Kuchen probieren kann. Eine solche Vorschrift wäre etwa: »Bitte geben Sie mir von jedem Kuchen das Randstück.« Damit hat die Person hinter der Bäckertheke eine eindeutige Anweisung, die sie befolgen kann. Wenn ich aber an kreisrunden Torten interessiert bin, ist das weniger einfach: Ich kann nur sagen, dass ich gerne ein Stück von jeder Torte hätte – aber ich kann nicht genau angeben, welches ich möchte, da die Tortenstücke ununterscheidbar sind.
Und genau das störte viele Fachleute. Das Auswahlaxiom ist anders als die übrigen Axiome, die eine eindeutig definierte Menge vorhersagen. Ihm zufolge existiert eine »Auswahlfunktion« (eine Anweisung, die ich dem Bäcker mitteile), ohne dass man weiß, wie diese aussehen könnte.
Dann kam 1904 der große Knall. Denn Zermelo, der das Auswahlaxiom eingeführt hatte, fand ein extrem kontraintuitives Ergebnis, das er nur mit Hilfe des Auswahlaxioms beweisen konnte. Er zeigte, dass jede Menge geordnet werden kann. Aus diesem so genannten Wohlordnungssatz folgt unter anderem, dass jede Menge eine Ordnung besitzt, in der es ein kleinstes Element gibt. Das widerspricht jedoch den gängigen Prinzipien der Mathematik, wenn man etwa die Menge (0, 1) betrachtet: Sie enthält alle reellen Zahlen, die größer sind als 0 und kleiner sind als 1. Mit solchen Mengen rechnet man in der Mathematik ständig. Wichtig hierbei ist, dass 0 und 1 nicht Teil von (0, 1) sind. Laut Wohlordnungssatz hat diese Menge gemäß einer bestimmten Ordnungsrelation ein kleinstes Element – aber welches? Die gewöhnliche Ordnung kann es nicht sein, denn was ist die kleinste Zahl, die größer ist als 0? Darauf gibt es in der Standardmathematik keine Antwort. Tatsächlich ist bis heute auch keine andere Ordnung bekannt, nach der (0, 1) ein kleinstes Element besitzt.
»Niemals haben Mathematiker in der Neuzeit so öffentlich und so vehement über einen Beweis gestritten«Gregory H. Moore, Mathematikhistoriker
Das Ergebnis entfachte eine weltweite Debatte, die fast schon philosophischer Natur war: Wann existiert ein mathematisches Objekt (wie die Auswahlfunktion oder das kleinste Element einer Menge)? Muss man stets angeben können, wie sich ein Objekt konstruieren lässt? Oder genügt es, die Existenz indirekt zu beweisen? »Von 1905 bis 1908 debattierten namhafte Mathematiker in England, Frankreich, Deutschland, Holland, Ungarn, Italien und den Vereinigten Staaten über die Gültigkeit von Zermelos Beweis. Niemals haben Mathematiker in der Neuzeit so öffentlich und so vehement über einen Beweis gestritten«, schreibt der Mathematikhistoriker Gregory Moore in seinem 1982 erschienenen Buch »Zermelo's Axiom of Choice«.
Und es kam noch schlimmer. Aus dem Auswahlaxiom folgt das so genannte Vitali-Theorem, wonach man eine Menge aus reellen Zahlen zwischen 0 und 1 bilden kann, die nicht messbar ist. Man kann dieser Menge also keine Länge zuordnen (während man das für die meisten Mengen problemlos kann, so hat das Intervall [0, 1] die Länge 1). Das Auswahlaxiom erlaubt es, die Zahlen in einzelne Teilmengen zu gruppieren und aus jeder ein Element zu wählen, wodurch die daraus entstehende Menge so zerklüftet ist, dass sie nicht mehr messbar ist.
Ein weiteres kontraintuitives Ergebnis ist die magische Verdopplung einer Kugel, besser bekannt als Banach-Tarski-Paradoxon. Mit Hilfe des Auswahlaxioms lässt sich eine Kugel mit Volumen V so in komplizierte Einzelteile zerlegen und wieder zusammensetzen, dass zwei Kugeln mit jeweiligen Volumen V entstehen. Solche und weitere Ergebnisse haben das Misstrauen in das Auswahlaxiom verstärkt.
Eine alternative Mathematik
Einige Fachleute waren also entschieden, das Auswahlaxiom zu verwerfen und stattdessen nur mit den acht Grundwahrheiten der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre zu arbeiten. Doch sie kamen nicht weit. Tatsächlich untersuchte Zermelo die Arbeiten von einigen der vehementesten Kritiker des Auswahlaxioms und konnte belegen, dass seine Kollegen – ohne es zu merken – immer wieder davon Gebrauch machten.
Ohne das Auswahlaxiom lässt sich beispielsweise nicht sicherstellen, dass jeder Vektorraum eine Basis hat. Dieses »Lemma von Zorn« klingt abstrakt, aber es handelt sich um eine Eigenschaft, auf die Physikerinnen und Mathematiker immer wieder zurückgreifen. Anschaulich kann man sich das mit Hilfe eines Blatts Papier vorstellen (das aus mathematischer Sicht nichts anderes als ein Vektorraum ist). Wenn man auf dieses Blatt zwei Pfeile malt, wobei einer in waagerechte und einer in senkrechte Richtung zeigt, dann kann man ausgehend von diesen Pfeilen jeden Punkt auf dem Blatt erreichen. Man kann zum Beispiel 0,5-mal die Länge des ersten Pfeils nehmen und mit 1,65-mal der Länge des zweiten addieren, um bei einem bestimmten Punkt x zu landen. Das Lemma von Zorn ermöglicht es folglich, in jedem Vektorraum ein Koordinatensystem zu zeichnen, durch das sich jeder Punkt im Raum eindeutig beschreiben lässt. Verzichtet man auf das Auswahlaxiom, gibt es auch Vektorräume ohne ein solches Koordinatensystem – was gerade in der Physik zu ernsten Problemen führen kann.
»Das Auswahlaxiom ist offensichtlich richtig, der Wohlordnungssatz ist offensichtlich falsch – und wer weiß schon, ob das Lemma von Zorn stimmt«Jerry Bona, Mathematiker
Wie sich herausstellt, hängen der Wohlordnungssatz, das Lemma von Zorn und das Auswahlaxiom nicht nur zusammen, sondern sie sind äquivalent. Aus mathematischer Sicht stehen sie auf einer Stufe, sie sind gleich. Das erscheint überaus erstaunlich, wie es der Mathematiker Jerry Bona treffend formulierte: »Das Auswahlaxiom ist offensichtlich richtig, der Wohlordnungssatz ist offensichtlich falsch – und wer weiß schon, ob das Lemma von Zorn stimmt.«
Ist das Auswahlaxiom richtig oder falsch?
Das Problem ist, dass man Axiome nicht beweisen kann. Zermelo hatte das Auswahlaxiom eingeführt, weil die acht Axiome der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre nicht mächtig genug sind. Eine Auswahlfunktion lässt sich durch sie nicht aufbauen. Sprich: Wenn man lediglich die acht akzeptierten Grundwahrheiten nutzt, kann ich beim Bäcker nicht jede Torte probieren.
Damit stand die Fachwelt vor der Wahl: Entweder akzeptierte sie das Auswahlaxiom und nahm es mit dazu oder sie ließ es weg. Aber, so der Gedanke einiger Fachleute, vielleicht ließe sich zeigen, dass die Hinzunahme des Auswahlaxioms zu Widersprüchen führt. Angenommen, die acht Grundwahrheiten sind wirklich richtig und werden immer nur korrekte Ergebnisse hervorbringen. Dann könnte es sein, dass ein zusätzliches Axiom zu Problemen führt: In Kombination mit einem der acht Zermelo-Fraenkel-Axiome könnte eine widersprüchliche Aussage wie 1 = 2 entstehen. In diesem Fall wäre das Fundament der Mathematik fehlerhaft, und das gesamte Fach würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen.
Das Auswahlaxiom kann als wahr oder falsch angesehen werden – und Mathematiker haben die freie Wahl, sich für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden
Doch wie sich in den 1960er Jahren herausstellte, ist das nicht der Fall. Fügt man den acht Grundwahrheiten das Auswahlaxiom hinzu, ergeben sich daraus keine Widersprüche. Allerdings ist es umgekehrt genauso: Man kann den acht Zermelo-Fraenkel-Axiomen die Negation des Auswahlaxioms hinzufügen, ohne auf Probleme zu stoßen. Das heißt: Das Auswahlaxiom kann als wahr oder falsch angesehen werden – und Mathematiker haben die freie Wahl, sich für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden.
Eine Welt ohne Auswahl
»Man hört häufig, dass das Auswahlaxiom für bestimmte mathematische Argumente nützlich, aber angesichts des Banach-Tarski-Paradoxons und anderer kontraintuitiver Konsequenzen problematisch ist. Meiner Meinung nach ergibt sich jedoch eine ausgewogenere Diskussion, wenn man auch die kontraintuitiven Situationen hervorhebt, die auftreten können, wenn das Auswahlaxiom versagt«, schreibt der Mathematiker Joel David Hamkins von der University of Notre Dame in Indiana in seinem Buch »Lectures on the Philosophy of Mathematics«.
Sieht man das Auswahlaxiom als falsch an, ergeben sich mit Blick auf reelle Zahlen paradoxe Ergebnisse. Angenommen, man möchte die reellen Zahlen in verschiedene Grüppchen unterteilen; Zahl x kommt in den Eimer A, Zahl y in Eimer B und so weiter. Jede Zahl kann in genau einem Eimer landen, und die Eimer enthalten jeweils mindestens eine Zahl. Wenn man das Auswahlaxiom ablehnt, dann lässt sich beweisen, dass die Anzahl der Eimer die der reellen Zahlen übersteigt. Es gibt also unendlich viele reelle Zahlen (und auch Eimer), aber die Unendlichkeit der Eimer ist größer als die Unendlichkeit der reellen Zahlen – zumindest, falls das Auswahlaxiom falsch ist.
»Das ist viel schlimmer als die nicht messbaren Mengen von Vitali«Joel David Hamkins, Mathematiker
Schlimmer noch: Würde die Negation des Auswahlaxioms gelten, dann gäbe es nicht bloß ein paar (sehr konstruierte) Beispiele für Mengen, die sich nicht messen lassen – die gesamte Maßtheorie würde zusammenbrechen! »Das ist viel schlimmer als die nicht messbaren Mengen von Vitali«, schreibt Hamkins in seinem Buch.
Aus diesem Grund hat sich das Auswahlaxiom in der »Mainstream-Mathematik« durchgesetzt. Es gibt zwar eine kleine mathematische Community, die versucht, das Fach völlig ohne Auswahlaxiom neu aufzurollen, doch die meisten Mathematiker und Mathematikerinnen haben es inzwischen als wahr akzeptiert. Ein Glück, denn so bleibt es weiterhin möglich, eine Kostprobe von beliebig vielen Torten beim Bäcker zu bestellen – und ich muss nicht anfangen, backen zu lernen.
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Erratum: Der Artikel wurde hinsichtlich des Wohlordnungssatzes überarbeitet.
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