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Warkus' Welt: Aus Angst vor dem Zukunfts-Ich

Deutschland hat die Schuldenbremse gelockert und komplexe Regeln für künftige Haushalte im Grundgesetz fixiert. Misstraut oder vertraut sich der Staat hier selbst, fragt unser Philosophie-Kolumnist.
Das Bild zeigt eine Collage: Im rechten Teil sind etliche 50-Euro-Scheine wie aufgefächert auf einem Tisch liegend zu sehen, im linken eine gemalte Deutschlandflagge. Die beiden Bildteile verschwimmen ineinander.
In Zukunft gibt es reichlich Geld für Vater Staat – wie wird er es einsetzen?
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Nun ist es also passiert. Die Grundgesetzänderung ist beschlossen, die Bundesrepublik Deutschland hat jetzt die Möglichkeit, sich in erheblichem Ausmaß neu zu verschulden. Ich will hier gar nicht über Sinn und Unsinn und das politisch Inhaltliche diskutieren. Mich interessiert vor allem, welche Art von Regeln eigentlich geändert wurden und mit welcher Motivation.

Die berühmt-berüchtigte Schuldenbremse des Grundgesetzes verankerte seit 2011 eine maximale Kreditaufnahme in der Verfassung, mit Formulierungen wie der Folgenden (Artikel 115):

Abweichungen der tatsächlichen Kreditaufnahme von der […] zulässigen Kreditobergrenze werden auf einem Kontrollkonto erfasst; Belastungen, die den Schwellenwert von 1,5 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt überschreiten, sind konjunkturgerecht zurückzuführen.

Das ist sehr spezifisch und sehr technisch, auch im Kontrast zu anderen Sätzen der Verfassung: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich« oder »Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen«. In der Diskussion um die Ausgestaltung der aktuellen Grundgesetzänderung, die die »Schuldenbremse« wieder lockert, kam die Frage auf, wie man sicherstellt, dass die neu aufgenommenen Kredite auch tatsächlich der Finanzierung neuer Investitionen dienen. Schließlich sollten nicht einfach nur Haushaltsposten verschoben werden, um Mittel für x-beliebige Zwecke freizusetzen. Dies hat dazu geführt, dass die Neufassungen der betreffenden Grundgesetzartikel sogar noch länger und verwickelter sind als die alten. Zum Beispiel ist nun die Rede von »zusätzlichen Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität bis zum Jahr 2045« und neben den Verteidigungsausgaben wird noch eine Reihe weiterer sicherheitsrelevanter Ausgabearten genannt.

Sowohl der alten Schuldenbremse als auch den neuen Regelungen zu ihrer Lockerung ist anzusehen, dass der Staat sich sozusagen selbst misstraut. So etwas kennt man auf der individuellen Ebene gut. Saloppe Ausdrücke wie »Vergangenheits-Ich« oder »Zukunfts-Ich« stehen dafür. Ich kann mir für die Zukunft etwas vornehmen, aber wer kann mir garantieren, dass das Zukunfts-Ich sich an die Vorsätze des Vergangenheits-Ichs hält? Mit der Zeit kann sich meine Motivation ja schließlich ändern. Ein bekanntes Beispiel dafür: Für einen Raucher ist es aus gesundheitlichen und finanziellen Gründen nützlich, möglichst schnell aufzuhören. Wenn er aber gerade Lust auf eine Zigarette hat, ist der Nutzen noch etwas größer, wenn er sich vor dem Aufhören noch eine letzte anzündet: So kommt auf den langfristigen Nutzen der kurzfristige Genuss noch obendrauf; die Kosten und gesundheitlichen Auswirkungen der letzten Zigarette fallen hingegen kaum ins Gewicht. Allerdings hat das Zukunfts-Ich, wenn die »letzte Zigarette« geraucht ist, genau denselben Anreiz: Eine geht noch, dann ist aber Schluss. Unser Raucher hört also einfach nie auf, obwohl er es sich ständig neu vornimmt.

Der Rechtsstaat kann sich selbst zwingen

Ein Rechtsstaat mit funktionierenden Institutionen hat andere Möglichkeiten, sich selbst zu etwas zu zwingen, als Sie oder ich. Einer Regel Verfassungsrang zu verleihen, so dass eine einfache parlamentarische Mehrheit nicht genügt, um sie zu kippen, ist sicher die drastischste. Der Staat kann sich sozusagen viel effektiver selbst das Rauchen verbieten als eine Einzelperson.

Wieso hinkt dieser Vergleich? Es ist eine unumstrittene wissenschaftliche Erkenntnis, dass Rauchen der Gesundheit schadet und das Leben verkürzt. Dass Schuldenmachen einem Staat schadet, ist hingegen durchaus strittig – es gibt genügend ernst zu nehmende Stimmen, die sagen, dass es ihm sogar eher schadet, notwendige Investitionen zu unterlassen, nur weil er keine neuen Schulden machen möchte. Man kann es so ausdrücken: Ob und wann ein Staat Schulden machen sollte, ist eben eine politische Frage. Man kann sich nicht auf einen überwältigenden wissenschaftlich-technischen Konsens zurückziehen, sondern muss eine Entscheidung treffen. Dass der Staat die Handlungsfähigkeit seiner Organe zum Treffen solcher Entscheidungen stark eingeschränkt hat und es auch nach der Lockerung der Schuldenbremse weiterhin tut, indem er erlaubte Zwecke der Kreditaufnahme definiert, kann man also skeptisch sehen.

Wird sich der Staat an die eigenen Regeln halten?

Wenn der Staat sich so weit misstraut, dass er sich vor seinen eigenen künftigen Haushaltsentscheidungen absichert, warum sollte er darauf vertrauen, dass er die dafür getroffenen neuen Regeln nicht umgeht? Der Staatsrechtler Florian Meinel von der Universität Göttingen hat dazu prophezeit, wir würden »voraussichtlich erleben, dass jedes beliebige Interesse sich demnächst als Infrastrukturinteresse neu erfindet«. Im schlimmsten Fall kann ein Staat natürlich, hinreichende politische Erschütterungen vorausgesetzt, sogar ganz aufhören, sich an die rechtsstaatliche Ordnung zu halten. Das ist nicht sonderlich weit weg: In den USA hat einer der Spitzenpolitiker der Opposition, Chuck Schumer, mehr oder minder zugegeben, dass die Trump-Regierung sich über so ziemlich alles Recht hinwegsetzt. Er wolle aber noch abwarten, ob sie auch den Obersten Gerichtshof missachten wird, bevor er die Demokratie wirklich als in Gefahr ansehe. Davon, dass die amerikanische Bundesregierung sich an Beschlüsse der »Vergangenheits-USA« gebunden sieht, kann nicht mehr die Rede sein.

Dass ein Staat sich verfassungsrechtliche Regelungen wie die Schuldenbremse oder die neuen, geänderten Regeln gibt, zeugt also davon, dass er sich, was die Zukunft anbetrifft, auf merkwürdige Weise gleichzeitig selbst misstraut und vertraut. Damit ist er dem Raucher dann doch wieder gar nicht so unähnlich.

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