Grams' Sprechstunde: »Impfprämie« Grundrechte?
Die gute Nachricht: Es geht voran mit dem Impfen! Ja, immer noch zu langsam, aber das wird sich hoffentlich bald ändern. Und damit ist nun in Sicht, dass die Priorisierung im Impfplan aufgehoben wird: ein Schritt, den man erwarten durfte und inzwischen auch fordern kann. Immerhin sind die Hauptrisikogruppen zum großen Teil fast überall erfasst, und jede weitere Impfdosis ist eine Waffe gegen die Pandemie.
Die Probleme werden uns allerdings selbst ohne Priorisierung nicht ausgehen, und vor allem eins dürfte sich bald in den Vordergrund drängeln: Ist es vertretbar, ist es vielleicht sogar geboten, Geimpfte nicht länger den Restriktionen zu unterwerfen, die das Infektionsschutzgesetz (InfSchG) ihnen abverlangt? Eine heikle Frage. Die Bundesregierung hat sie bei ihren letzten Beschlüssen zum neu gefassten InfSchG offengelassen, die Kanzlerin hat sich in ihren Erklärungen auf Andeutungen beschränkt.
Die Maßnahmen des InfSchG dienen der Gefahrenabwehr. Der Rechtsstaat setzt für solche Fälle aber einen engen Rahmen: Generell unterliegen die Maßnahmen strikt den Voraussetzungen von Angemessenheit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit, und das kommt gerade dann zum Tragen, wenn sie unsere Rechte, vor allem unsere Grundrechte, einschränken. Die Maßnahmen unterliegen zudem einem beständigen Rechtfertigungszwang. Daraus leitet sich das Gebot ab, sich stets auf den geringstmöglichen Eingriff zu beschränken.
Das bedeutet vor allem auch: Das InfSchG lässt die Grundrechte nicht verschwinden. Sie sind weder »weg« noch hat sie jemand eingesperrt, sie sind nach wie vor ganz real vorhanden. Die Grundrechte sind eingeschränkt – und das optimalerweise legitim, denn immerhin gilt es, eine Pandemie zu bezwingen. Vor diesem Hintergrund halte ich es für sehr unglücklich, ein »Zurückgeben von Grundrechten« in den Raum zu stellen, womöglich noch in einer Form von »Impfbonus«. So formuliert wird die Botschaft schief, ja falsch. Warum spricht man nicht von Aufhebung der Einschränkungen?
Es lohnt sich, die individuelle und gesellschaftliche Bedeutung dieser Einschränkungen (für Ungeimpfte) und ihre Aufhebung (für Geimpfte) herauszuarbeiten. Blicken wir also mit dem Vokabular der Juristen auf den Sachverhalt, wobei dem Urteil stets die »Tatsachenfeststellung« vorausgehen muss. Abzuwägen ist die Einschränkung von Rechten gegen den Wert der Schutzwirkung durch die Impfung für einen selbst und für andere.
Dabei gibt es zu Immunität und Ansteckungsfähigkeit von Geimpften bereits konkrete Erkenntnisse: Das Robert Koch-Institut beschreibt die (individuellen) Restrisiken einer Immunisierung durch die Impfung und zieht daraus ein epidemiologisches Fazit: »Aus Public-Health-Sicht erscheint durch die Impfung das Risiko einer Virusübertragung in dem Maß reduziert, dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielen.«
Es lohnt zudem ein ganz grundsätzlicher Blick auf gesellschaftliche Folgen: Zu bedenken ist, dass die Impfung – neben dem vernünftigen Verhalten des Einzelnen – derzeit unsere stärkste Waffe gegen die Pandemie bleibt. Nun laufen wir jedoch Gefahr, dieser Waffe unser Misstrauen auszusprechen: Indem wir an Restriktionen für alle, auch für Geimpfte, festhalten, entwerten wir den Impfschutz. Wahrscheinlich würde die Impfbereitschaft massiv absinken, aber abgesehen davon verlängern wir so auch potenziell die Dauer von Restriktionen ins Unendliche.
Am Ende erzwingt die Abwägung eine logische Schlussfolgerung: Mit jedem Tag, an dem die Durchimpfungsrate (vor allem bei den vulnerablen Gruppen) zunimmt, ist es weniger zu rechtfertigen, bei den Geimpften weiterhin auf uneingeschränkte Restriktionen zu setzen. Denn der Sachgrund (Weitergabe des Virus) entfällt fast ganz oder sogar völlig. Ein Restrisiko bleibt, dieses ist aber, solange die Impfstoffe ebenfalls gegen bedenkliche Varianten wirken, nicht länger epi- oder gar pandemisch bedrohlich.
Einschränkungen kennt unsere Gesellschaft übrigens nicht erst seit der Pandemie. Wir wissen ja durchaus, dass im öffentlichen Leben nicht jedem alles erlaubt ist: Wer in einer Tempo-30-Zone zu schnell unterwegs ist, riskiert eine Strafe; wer angetrunken ein Flugzeug besteigt, wird mitunter nicht mitfliegen dürfen. Einschränkungen nehmen uns nicht unsere Grundrechte, und somit gibt uns das Aufheben von Einschränkungen auch keine Grundrechte zurück. Ich finde, dass in diesem Punkt eine präzise Wortwahl ganz entscheidend ist: Wer falsch vom »Zurückgeben der Rechte« und Ähnlichem spricht, liefert Impfgegnern Munition in die Hand, auf den bösen, repressiven Staat zu zielen. Nein, danke!
Das Aufheben von Einschränkungen darf nicht falsch verstanden werden: als Mittel, mit dem eine Art Impfzwang mit sanftem Druck durchgesetzt werden soll. Schließlich ist doch trotz aller schlechten Erfahrungen des vergangenen Jahre unbestreitbar, dass Aufklärung vor Druck und Zwang gehen muss – schon deshalb, weil man so nachhaltig erfolgreicher sein wird.
Sonst bleibt vernünftig sein übrigens freiwillig. Schließlich wird niemand hier in Deutschland zur Impfung gegen Covid-19 gezwungen. Es gibt keine aktiven Repressalien für Impfablehnende, die zu einer »Impfpflicht durch die Hintertür« führen. Es gibt – für mich persönlich unverständlich – höchstens ein »Sich-nicht-schützen-Wollen« mitsamt allen Nachteilen, die einem daraus erwachsen. Jede erwachsene Person kann selbst entscheiden, ob sie diese Nachteile in Kauf nimmt; zusätzlich zum ohne Impfung weiter bestehenden Risiko, an Covid-19 zu erkranken.
Ach, und die »Drohung« von Impfgegnern in den sozialen Medien, sie würden dann eben als potenzielle Kunden und Kino- und Restaurantbesucher verloren gehen, wenn man dort einen Impfnachweis sehen möchten? Schon okay! Wir anderen haben dann bald wieder mehr Platz, um uns im Restaurant zu treffen – und werden da (weil wir vernünftig sind) auch schön weiter die AHA-Regeln einhalten. Als geschenkte Prämie des Impfschutzes wartet auf uns das gemeinsame Erleben des (fast) wieder normalen Alltags.
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