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Gute Nacht – die Kolumne für besseren Schlaf: Nachts sind alle Gedanken grau

Heute habe ich total versagt. Ich werde hier noch stundenlang wach liegen. Den Tag morgen schaffe ich nie. Kennen Sie diese Gedanken? Sie sind nicht allein.
Eine junge Frau sitzt in eine Decke gewickelt im Bett und hält sich den Kopf
Durchwachte Nächte voller düsterer Gedanken und am Morgen völlig gerädert aufstehen – das kennen viele Menschen. Schuld ist die Biologie unseres Gehirns.

»Wenn du morgen aufwachst, sieht die Welt ganz anders aus«, diesen Satz gab mir meine Mutter mit auf den Weg, wenn ich nach einem schlechten Tag ins Bett ging. Und natürlich stimmt es: Was Menschen sich bei Nacht so zusammengrübeln, das verstehen sie am nächsten Morgen selbst nicht mehr. All die Ideen vom eigenen Versagen, von unlösbaren Konflikten, Ängsten, denen wir nicht gewachsen sind, und natürlich dem Versagen, das aus dem Schlafmangel selbst resultiert, sie verblassen im ersten Licht des Tages. So schlief ich in meinen schlafgestörten Jahren oft im Morgengrauen ein, was wirklich jeder biologischen Logik widerspricht, denn mit dem Tageslicht bekommen wir einen Hormonkick, der uns eigentlich fit für den Tag machen soll.

Nachts sind alle Gedanken grau – und das hat körperliche Ursachen. Das Phänomen untersuchen Schlafforscher als »Mind after Midnight«-Hypothese, was wir nicht direkt übersetzen können. »Mind« meint Verstand, Gedanken, Gefühle, Informationsverarbeitung und Bewertungen, Grübeleien und Bewusstsein, manche sagen auch Geist dazu. Ich verwende hilfsweise den Begriff »Gehirn« und schließe dabei alle Funktionen mit ein.

Außer Kontrolle? Außer Kontrolle!

Die »Mind after Midnight«-Hypothese fasst zusammen, was im Dunkeln passiert: Das Gehirn funktioniert anders als am Tag, Menschen werden unvernünftiger, können ihre Gedanken schlechter steuern und ihre Emotionen nicht regulieren. »Diese Veränderungen fördern einen Kreislauf riskanter Verhaltensweisen und Konsequenzen, der außer Kontrolle geraten kann«, so beschreibt es das Forschungsteam um Andrew Tubbs im Fachmagazin »Frontiers in Network Physiology«.

Als früher stark Betroffene fühle ich mich von der Formulierung »außer Kontrolle« besonders gut verstanden. Spreche ich heute mit Betroffenen über ihren Schlafmangel, taste ich mich vorsichtig bis in die Gefühlswelt der Nacht vor. Was wartet da? Ängste, Wut und Verzweiflung sind häufige Begleiterinnen durchwachter Nächte. In der Nacht ist die Stimmung schlechter, deshalb neigen Menschen, die nachts auf sind, mit größerer Wahrscheinlichkeit zu riskantem und selbstschädigendem Verhalten.

Ob für das Lernen, die Laune oder die Gesundheit – guter Schlaf ist lebenswichtig. Doch leider klagen viele Menschen über Schlaflosigkeit oder Schlafprobleme. In der Kolumne »Gute Nacht – die Kolumne für besseren Schlaf« gehen wir regelmäßig auf Hintergründe zum Thema Schlaf ein und geben Tipps, wie Sie (wieder) besser ein- und durchschlafen.

Diese Beobachtung gilt als einer der Verdächtigen bei der Erforschung der Frage, wie Depression und Schlaflosigkeit zusammenhängen. Nachts sind Menschen trauriger, und das hat biologische Gründe. Deshalb möchte ich immer wieder dazu raten: Wenn es Ihnen nachts emotional sehr schlecht geht, dann ist das ein guter Grund, den Weg zur Psychologin einzuschlagen.

Zurück zur Kontrolle

Wenn Sie erst einmal selbst etwas gegen die grauen Gedanken tun wollen, dann müssen Sie üben. Dass Sie jetzt diesen Text gelesen haben und wissen, dass Ihr Gehirn Sie nachts in die Dunkelheit zieht, hilft in den ersten wachen Stunden dabei, sich selbst zu verstehen. Das sind nicht Sie, die da grübelt. Das ist Ihr »Mind after Midnight«. Doch einige Stunden später sind Sie, vermute ich mal, dann bloß noch wach und wütend. Denn so funktioniert das Gehirn bei Nacht – auch wenn man’s weiß.

Gegen die Biologie anzukommen ist schwer. Die endgültige Lösung liegt darin, nachts zu schlafen und das Gehirn eine Weile sich selbst zu überlassen. Es räumt dann auf, auch das dient den positiven Emotionen, aber ebenso dem Wissenserwerb und der Konzentration.

Schlafen Sie nicht!

Nun schauen Sie ungläubig auf den Bildschirm, und Sie haben ja Recht. »Schlafen Sie« ist ein Rat, der noch niemandem geholfen hat. Also schlafen Sie nicht.

Trainieren Sie Gedankenkontrolle, wenn Sie wach sind, und wenn es dann Nacht ist und Sie wach liegen: Versuchen Sie auf gar keinen Fall einzuschlafen. Denken Sie nicht einmal daran.

Der Weg zur Gedankenkontrolle führt über die Meditation. Menschen mit Schlafstörungen rate ich daher dringend dazu, sich mit irgendeiner Form davon vertraut zu machen. Die Metta-Meditation wünscht anderen – und sich selbst – Gutes. Die Noting-Technik übt, Gedanken wahrzunehmen, sie aber nicht zu verfolgen, im Deutschen sagen wir Achtsamkeit oder Etikettieren dazu. Sie können auch Atemzüge zählen, starten Sie dabei immer nach vier oder zehn Atemzügen wieder von vorn.

Meditation gilt manchen als Klischee der Problembekämpfung, doch die Wahrheit ist: Sie ist ein wissenschaftlich umfassend belegter Startpunkt. Wenn Sie finden, Ihr Problem sei zu ernst, um es wegzumeditieren, dann bin ich trotzdem auf Ihrer Seite. Dann wählen Sie jetzt den Patientenservice 116117 und lassen Sie sich erläutern, wie Sie an Ihrem Wohnort zur psychologischen Diagnostik kommen. Ich fände es toll, wenn Sie das machten.

Wenn Sie diesen Schritt noch nicht gehen wollen, dann möchte ich erneut festhalten: Meditation funktioniert für viele Menschen. Sie hilft gegen Ängste, bessert die Stimmung, hilft bei Schlafstörungen und ist ein aussichtsreicher Kandidat bei der Bekämpfung von selbstschädigendem Verhalten, berichtet ein Team um den Arzt Aneeque Jamil in einem Überblicksartikel.

Helfen Sie Ihrem Gehirn

Die Studienlage ist breit und reicht von Befragungen bis hin zu Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren, die untersuchen, wie Meditation das Gehirn verändert. Und hier wird es spannend. Denn Meditation stärkt ausgerechnet jene Bereiche, die nach der »Mind after Midnight«-Hypothese bei Nacht nicht so arbeiten, wie wir uns das wünschen.

Zwei Beispiele: Die Amygdala des »Mind after Midnight« ist hochreguliert – Meditation beruhigt sie. Eine andere Studie berichtet, dass Meditation die Konnektivität des präfrontalen Kortex erhöht. Dessen Funktion ist nachts beschränkt. Funktioniert er besser, denken wir vernünftiger und können besser planen. Die »Mind after Midnight«-Hypothese wird viel Forschungsarbeit nach sich ziehen. Die Aussichten sind aber gut, dass insbesondere in Achtsamkeits- und Entspannungsverfahren eine Antwort auf die düsteren Empfindungen liegt.

Man könnte sagen: Nachts hat das Gehirn genug vom Wachsein und richtet sich gegen uns. Oder: Nachts kann der Körper die Prozesse, die uns bei guter Stimmung halten, nicht mehr aufrechterhalten. Wir können den Schlaf nicht erzwingen; doch wir können üben, zur Ruhe zu kommen. Meditation ist dabei eine gute Kandidatin, weil sie auf physiologischer Ebene genau da etwas verändert, wo nachts besonders viel schiefläuft. Üben Sie. Der Schlaf könnte dann von allein kommen. Und wenn nicht, dann geht es Ihnen wenigstens etwas besser. Und wenn Sie morgen aufwachen, dann sieht die Welt wieder anders aus. Versprochen.

  • Quellen

Emens, J. S. et al.: Circadian rhythm in negative affect: Implications for mood disorders. Psychiatry Research 293, 113337, 2020

Jamil, A. et al.: Meditation and its mental and physical health benefits in 2023. Cureus 15, e40650, 2023

Rathore, M. et al.: Functional connectivity of prefrontal cortex in various meditation techniques – A mini-review. International Journal of Yoga 15, 2022

Tubbs, A. S. et al.: The mind after midnight: Nocturnal wakefulness, behavioral dysregulation, and psychopathology. Frontiers in Network Physiology 1, 830338, 2022

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