Freistetters Formelwelt: Handwerk und hohe Kunst
In der Schule war ich nie gut in Mathematik. Das hat sich erst während meines Studiums an der Universität geändert. Sowohl in der Schule als auch an der Uni hatte ich aber die Differenzialrechnung immer besonders gerne. Die Ableitung einer mathematischen Funktion zu berechnen, empfinde ich noch heute als beruhigend. Die Bedeutung dieser Tätigkeit, also die Veränderungsrate einer mathematischen Funktion zu berechnen, spielt dabei gar keine so große Rolle. Es geht um die Rechnung an sich: Eine Funktion zu differenzieren, ist auf ähnliche Weise befriedigend, wie ein Holzregal zusammenzubauen, einen Schal zu stricken oder Unkraut im Garten zu jäten. Und der Vergleich mit manueller Arbeit dieser Art ist gar nicht so weit hergeholt.
Zum Differenzieren braucht es kaum Kreativität, Intuition oder tiefere Einsicht in die mathematischen Vorgänge. Wenn man einen kleinen Satz an Regeln beherrscht, kann man jede Funktion ableiten (zumindest alle, bei denen das mathematisch überhaupt möglich ist). Und die entsprechenden Vorschriften habe ich bis heute nicht vergessen. Zum Beispiel die Quotientenregel:
Zwei Funktionen, von denen eine durch die andere geteilt wird, lassen sich mit dieser Regel einfach differenzieren. Außerdem gibt es eine Produktregel, eine Kettenregel und noch ein paar weitere Gesetzmäßigkeiten. Solange man nicht den Überblick über die Formeln und Symbole verliert, ist die Differenzierung sehr komplizierter Ausdrücke kein Problem.
Darin unterscheidet sich die Differenzialrechnung deutlich von ihrem mathematischen Gegenstück, der Integralrechnung. Auch hier existieren Regeln, und es gibt ein paar Standardmethoden, mit denen man das Integral einfacher Funktionen berechnen kann. Doch wenn man das Differenzieren als reines Handwerk beschreiben kann, muss man die Integration eher mit Kunst vergleichen. Das Integral einer komplexen Funktion zu berechnen, kann unmöglich erscheinen – so lange, bis man einen kreativen Einfall hat, der verborgene Muster oder bisher unentdeckte Zusammenhänge offenlegt, die den Einsatz bekannter Integrationstechniken erlauben.
Man kann ganze Dissertationen oder gar wissenschaftliche Karrieren mit der Berechnung mathematischer Integrale verbringen. Die Differenzierung erledigt aber heutzutage jedes bessere Computeralgebrasystem. Während meines Studiums an der Universität und meiner Arbeit als Astronom musste ich natürlich immer wieder Integrale berechnen. Und wenn mir das gelang, war es immer ein besonders befriedigender und eindrücklicher Moment. Oft war es allerdings auch eine frustrierende Arbeit, bei der man stundenlang ohne Fortschritt über den Gleichungen brütete. Und entweder brachte irgendwann ein plötzlicher Geistesblitz endlich den Durchbruch – oder man gab sich geschlagen, und die Gleichung blieb ungelöst.
Bei der Differenzierung dagegen wusste man immer, woran man war. Das Problem mochte komplex erscheinen; wenn man jedoch konzentriert an die Arbeit ging, die Gleichung in ihre Bestandteile zerlegte und die passenden Ableitungsregeln verwendete, war der Erfolg nur eine Frage der Zeit. Wann immer ich während meiner Arbeit mit der Differenzialrechnung zu tun hatte, habe ich versucht, die Gleichungen ohne Hilfe von Computern zu lösen – auch wenn es dann oft ein wenig länger gedauert hat. Aber es ist ja auch sehr oft schöner, zu Fuß von einem Ort zum anderen zu gehen, selbst wenn man mit dem Auto viel schneller wäre. Die Mathematik braucht das Handwerk genauso wie die Kunst, und wenn man sich auf den »Fußweg« durch die Gleichungen macht, lernt man unterwegs nicht nur dieses Handwerk, sondern erarbeitet sich zudem die nötige Ausdauer, um die wirklich schweren Probleme angehen zu können.
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