Freistetters Formelwelt: Wo endet das Sonnensystem?
Die Voyager-Raumsonden sind am 5. September 1977 (Voyager 1) und etwa zwei Wochen zuvor, am 20. August 1977 (Voyager 2), ins All gestartet. Damit sind sie fast genauso lange im Weltraum unterwegs, wie ich auf der Welt bin. Im Gegensatz zu den Sonden habe ich in den nun schon fast 46 Jahren meines Lebens das Sonnensystem noch nie verlassen. Voyager 1 dagegen ist im Mai 2005 aus dem Sonnensystem geflogen. Und im September 2009 noch einmal. Genauso wie im Mai 2010, im Dezember 2011 und im September 2013. Das klingt verwirrend – was daran liegt, dass es nicht so einfach ist, das »Ende« des Sonnensystems zu definieren. Hier ist eine Formel, die dabei hilft:
Der Ausdruck links vom Gleichheitszeichen beschreibt den Druck des Sonnenwindes. Er hängt von der Masse m der Teilchen ab, aus denen der Sonnenwind besteht, ihrer Geschwindigkeit v, der Teilchendichte d und dem Abstand zur Sonne r. Auf der rechten Seite steht der thermische Druck des Gases des interstellaren Mediums (gegeben durch seine Dichte n, Temperatur T und die Boltzmann-Konstante k). Das interstellare Medium (ISM) ist die Materie, die den Raum zwischen den Sternen einer Galaxie durchzieht, und besteht aus diversen Gasatomen und Staubteilchen.
Die Sonne und mit ihr das gesamte Sonnensystem bewegen sich durch diese Materie hindurch, mit einer Geschwindigkeit von zirka 25 Kilometern pro Sekunde. Das ISM erscheint also wie eine Art Fahrtwind; gleichzeitig strömt der Sonnenwind von der Sonne nach außen. Dieser übt einen Druck auf das ISM aus und umgekehrt. Die Formel beschreibt den Punkt, an dem sich die beiden Drücke gerade gegenseitig ausbalancieren. Oder vereinfacht gesagt: Dort, wo der Sonnenwind nicht mehr vom ISM unterscheidbar ist, endet der Einfluss der Sonne.
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Wo genau das ist, hängt von der aktuellen Stärke des Sonnenwindes und der jeweiligen interstellaren Umgebung ab; die Grenze ist also zeitlich und räumlich variabel (und kann irgendwo zwischen 120 und 200 Astronomischen Einheiten liegen). Das ist einer der Gründe für die verwirrenden Angaben in den Medien, wann die Voyager-Sonden das Sonnensystem verlassen haben. Doch abgesehen davon kann man auch argumentieren, dass Voyager 1 und 2 noch sehr, sehr lange Teil des Sonnensystems sein werden.
Wie weit reicht die Anziehungskraft der Sonne?
Denn neben dem Einfluss des Sonnenwindes gibt es ja noch die Gravitationskraft, die unser Stern ausübt. Die acht Planeten befinden sich zwar alle weit innerhalb des Einflussbereichs des Sonnenwindes (der Heliosphäre), aber es gibt noch mehr Himmelskörper. Der 2003 entdeckte Asteroid Sedna befindet sich beispielsweise auf einer Umlaufbahn, deren fernster Punkt 944 Astronomische Einheiten von der Sonne entfernt ist. Der 2015 gefundene Asteroid Leleākūhonua entfernt sich weit über 1000 Astronomische Einheiten von der Sonne, und andere Asteroiden bewegen sich noch viel weiter darüber hinaus. Der gravitative Einfluss der Sonne reicht etwa 100 000 Astronomische Einheiten (knapp 1,5 Lichtjahre) weit. Genau genommen ist die Reichweite der Gravitationskraft unendlich, aber irgendwann überwiegen die Anziehungskräfte der Nachbarsterne.
Die Voyager-Sonden sind bis jetzt 160 beziehungsweise 133 Astronomische Einheiten weit gekommen. Sie haben den Einflussbereich des Sonnenwindes verlassen und können nun die Bedingungen erforschen, die im interstellaren Medium herrschen. Bis man allerdings wirklich sagen kann, dass sie sich nicht mehr im Sonnensystem befinden, werden noch ein paar zehntausend Jahre vergehen. Ihre Instrumente und Kommunikationsgeräte werden noch ein paar Jahre oder vielleicht sogar länger funktionieren. Aber irgendwann ist Schluss. Und dann werden Voyager 1 und Voyager 2 durch den interstellaren Raum der Milchstraße treiben, ohne dass wir ihr Schicksal weiter verfolgen können.
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