Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte von den wichtigsten Löchern der Technik
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Als Joseph-Marie Jacquard um das Jahr 1800 ins alte Familiengeschäft der Seidenweberei einstieg, dürfte er sich an seine Kindheit erinnert haben. An das mühsame Business, das die Lyoner Seidenweber betrieben: Um feine Muster zu erzeugen, galt es beispielsweise, im richtigen Moment die richtigen Fäden anzuheben, dann wieder abzusenken, dann neue Fäden auszuwählen, anzuheben, abzusenken und so fort. Das war typischerweise die Aufgabe einer jungen Hilfskraft, wie Jacquard nur allzu gut wusste.
Der 50-jährige Webersohn, dessen verwickelter Lebensweg bis dahin wenig mit der hübschen Ordnung von Kette und Schuss gemein hatte – er hatte (unter anderem) Besteck hergestellt, Kalk gebrannt, in Immobilien investiert und in den Koalitionskriegen gekämpft –, sann auf eine technische Lösung.
Spinnmaschinen, wie die »Spinning Jenny«, waren längst gang und gäbe. Edmund Cartwright hatte 1784 den ersten dampfkraftbetriebenen Webstuhl gebaut. Die Automatisierung war also bereits weit vorangeschritten. Jacquards Innovation aber katapultierte das fehleranfällige Handwerk der Weberei endgültig in seine Zukunft der hocheffizienten, maschinellen Perfektion.
Mehr noch, im Herzen seines Apparats klapperte etwas, in dem sich das digitale Zeitalter bereits ankündigte: ein Datenspeicher. Genauer gesagt, ein System aus Lochkarten, das beim Weben das Anheben und Absenken der Kettfäden übernahm und so im Prinzip auf jedem Webstuhl jedes beliebige Muster hervorbringen konnte. Rund 80 Jahre später wird ein Sohn Pfälzer Amerika-Auswanderer, Herman Hollerith, dieses Prinzip weiterführen, um einen weiteren entscheidenden Schritt in der Geschichte der modernen Datenverarbeitung zu gehen.
Die ersten Lochkarten, die Jacquard verwendete, waren rechteckige Holzplatten mit Löchern, die zu einer Art Kette verbunden waren. Sie tackerten eine nach der anderen durch den Apparat. Jeder Schuss eine Karte. Tausende Fäden ließen sich damit gleichzeitig bewegen.
Selbst ausgedacht hatte sich Jacquard dieses Prinzip allerdings nicht. 1725 hatte der Lyoner Weber Basile Bouchon bereits mit ausgestanzten Papierkarten experimentiert, auch der Erfinder und Automatenbauer Jacques de Vaucanson hatte Lochkarten eingesetzt. Ruhm und Ehre – und die ihm von Napoleon zugesprochene lebenslange Pension – gebührten Jacquard vor allem dafür, dass er das Prinzip bis zur Praxisreife weiterentwickelte.
Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Jacquardweberei im Jahr 1839, fünf Jahre nach dem Tod des Erfinders: Mit Hilfe von 24 000 Lochkarten produzierten Weber ein, heute würde man sagen, hochaufgelöstes Porträt des Meisters selbst. Dank dem Lyoner Erfinder war aus dem Webstuhl eine programmierbare Maschine geworden.
Das Geschäft mit den Volkszählungen
Und hier kommt nun Herman Hollerith ins Spiel. Der studierte Ingenieur, geboren 1860 in Buffalo bei New York, hatte gerade erst auf Vermittlung seiner Professoren eine Stelle in der Volkszählungsbehörde der US-Regierung bekommen. In den Vereinigten Staaten wird seit 1790 alle zehn Jahre die Bevölkerung gezählt – bis heute. Tausende »Enumerators« gingen damals von Haus zu Haus und sammelten in Erhebungsbögen unterschiedlichste Informationen. Das Beschaffen der Daten war zweifellos mühsam, das Durchzählen und Analysieren erwies sich aber als noch zäher: Bei der Volkszählung von 1880, an der der frischgebackene Absolvent Hollerith anfänglich noch mitwirkte, dauerte die Auswertung ganze acht Jahre. Es gelang noch gerade eben, sie abzuschließen, bevor die nächste Volkszählung begann. Zufrieden stellend war das nicht.
Hollerith war aber ohnehin nur kurz bei den Volkszählern geblieben. In der Folge wechselte er mehrfach seinen Job und arbeitete ab 1884 als freier Erfinder und Unternehmer. In diese Zeit fällt auch sein erstes Lochkartenpatent, an dem er in den Folgejahren immer weiterfeilte. Auch einige Bundesbehörden konnte er ab 1886 für Tests gewinnen, wie Geoffrey D. Austrian in seiner Biografie über den »vergessenen Riesen der Datenverarbeitung« schreibt (»Herman Hollerith: Forgotten Giant of Information Processing«). Der Durchbruch gelang ihm, als er 1889 den Zuschlag erhielt, die Auswertung der für 1890 angesetzten Volkszählung zu übernehmen.
Es war ein gigantischer Erfolg für Hollerith. Und der ultimative Beweis für die Nützlichkeit seines Lochkartenverfahrens. Statt nach acht Jahren lagen die Daten diesmal schon nach wenigen Monaten vor. Insgesamt 62 Millionen Lochkarten hatte Hollerith dafür durch 43 von ihm selbst entworfene »Hollerithmaschinen« jagen lassen.
Auf die Idee, persönliche Daten nicht auf einem Formular einzutragen, sondern in Form von Löchern in einer Karte zu speichern, brachte ihn eine Zugfahrt. Die Tickets, die die Fahrgäste in den Händen hielten, waren rechteckige Zettel mit vorgedruckten Feldern. Wollte ein Schaffner Angaben zum Reisenden, seiner Route oder auch nur das Datum eintragen, genügte ihm ein Knipser. Die Löcher machten somit aus einem simplen Zettel eine mobile Speichereinheit, ideal für persönliche Infos – seien es die von Bahnreisenden oder die von Mitbürgern.
Hollerith erkannte, dass sich mit solchen Karten nicht nur leicht Daten speichern, sondern auch ebenso schnell auslesen oder sortieren lassen. Dazu entwickelte er die Tabelliermaschine, auf deren Zählwerken das Endergebnis abgelesen werden konnte. Ein Wunder an Beschleunigung und Effizienz, sieht man einmal davon ab, dass die »Puncher«, in der Regel Frauen, noch ziemlich schuften mussten, um im Handbetrieb Karte um Karte abzuarbeiten. Die Maschine besaß dazu eine Art Lesekopf, der mit einem Hebel auf die Karte abgesenkt wurde. An jeder möglichen Lochposition hatte der Kopf einen kleinen Stift. Jene Stifte, die sich über einem Loch befanden, passierten die Karte und tauchten in ein darunter liegendes Quecksilberbad, wodurch sich ein Stromkreis schloss, der dann eine der zahlreichen Zähluhren um eine Einheit weiterschaltete.
Von der Zählmaschine zur Computerindustrie
1896 gründete Hollerith die Tabulating Machine Company (TMC) und verlieh seine Gerätschaften für Volkszählungen an Länder wie Österreich-Ungarn, Russland oder Frankreich. Daneben entwickelte der Ingenieur Lochkartenanwendungen für die Privatwirtschaft: Große Firmen seiner Zeit, Eisenbahngesellschaften oder Versicherungen, zählten bald zu seinen Kunden. Sie sammelten damit Daten für Betriebsstatistiken, organisierten die Lohnverwaltung oder erstellten Verkaufsanalysen. Hollerith stieg aber bald aus. 1911 fusionierte das Unternehmen zur Computing-Tabulating-Recording Corporation (CTR). Hollerith verkaufte seine Anteile und war ab da nur noch beratend tätig. Hauptsächlich widmete er sich nun der Zucht von Guernsey-Rindern auf seiner Farm.
Die Revolution, die er mit seinen Lochkarten angestoßen hatte, nahm nun ohne ihn ihren Lauf: Aus der Computing-Tabulating-Recording Corporation wurde die Firma International Business Machines Corporation, besser bekannt als IBM. Und aus der 80-Zeichen-Zeilenlänge der Hollerith-Lochkarte wurde das Standardformat der Programmeingabe und Datenspeicherung – bis in die 1960er Jahre.
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