Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte vom Absinth oder wie die Grüne Fee abhob und stürzte
Der Legende nach ließ sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein französischer Arzt namens Pierre Ordinaire im Schweizer Tal Val-de-Travers nieder. Angeblich aus politischen Gründen war er aus Frankreich geflohen – mit einem ganz besonderen Rezept im Gepäck: ein Destillat aus Wermutkraut, Anis, Fenchel und einer Menge anderer Kräuter. Ordinaire gab dem Getränk nach der lateinischen Bezeichnung des Wermutkrauts den Namen Absinth.
Damit beginnt eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht. Wie sie im Detail verlaufen ist, haben Matthias Bröckers, Christine Heidrich und Roger Liggenstorfer in ihrem Buch »Absinthe – Die Wiederkehr der Grünen Fee« zusammengestellt. Sie fängt – wie bei vielen Rauschmitteln – in der Medizin an.
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Denn die Verwendung des Wermutkrauts reicht lange zurück. Auf Grund seiner Eigenschaften als Entwurmungsmittel wird es zunächst als medizinisches Produkt genutzt. Im 18. Jahrhundert entwickeln Tüftler daraus Getränke, die nicht einzig Leib, sondern auch der Seele guttun sollen.
Wie der Absinth von der Schweiz nach Frankreich kommt
So soll, wie eine weitere Ursprungslegende des Absinths besagt, in der Nähe des Ortes Couvet im Val-de-Travers eine Frau namens Henriette Henriod das erste Rezept für Absinth erstellt haben. Welche Legende auch immer stimmt, schlussendlich landet die Rezeptur bei einem gewissen Henri-Louis Pernod (1776–1851). Dieser gründet daraufhin 1797 in Couvet die erste Absinthdestillerie, zieht aber bald darauf ins französische Pontarlier um den Markt in Frankreich bedienen zu können.
Während in Val-de-Travers die wie aus dem Boden geschossenen Destillerien weiterhin auf kleiner Flamme produzieren, entwickelt sich das Geschäft für Pernod äußerst gewinnträchtig. Vor allem unter Soldaten ist das Getränk beliebt, wahrscheinlich weil sie es den üblichen Entwurmungspräparaten vorziehen, die sie konsumieren sollen. Einige Zeit später, seit den 1860er ,Jahren, beutelt zudem die eingeschleppte Reblaus die Weinbauern in Frankreich. Als Folge produzieren sie kaum noch Rotwein – ein weiterer Grund, weshalb Absinth das Land wie im Sturm erobert.
Im Jahr 1905 werden in Frankreich allein insgesamt zehn Millionen Liter pro Jahr produziert. Auch das Val-de-Travers kommt zu jener Zeit auf stattliche 600 000 Liter pro Jahr.
Die Grüne Fee beflügelt die Künstlerwelt
So richtig populär machen den Absinth die vielen Künstlerinnen und Künstler, die das Getränk nicht nur in rauen Mengen konsumieren, sondern auch in ihren Arbeiten verewigen. Die Reihe reicht von Édouard Manet mit seinem Gemälde »Der Absinthtrinker« über den Dichter Arthur Rimbaud und dessen Begeisterung für Absinth bis hin zu Vincent van Gogh. Seine »gelbe Phase«, so vermuten einige Kunsthistoriker, sei ein direktes Resultat übermäßigen Absinthgenusses gewesen. Sie alle erfreuen sich an der angeblich zusätzlich berauschenden Wirkung des Thujons, ein im Wermutextrakt enthaltenes ätherisches Öl.
Auch in der breiten Masse ist das Getränk angekommen. Seit den 1860er Jahren pflegen viele Menschen eine »grüne Stunde«: Man trifft sich nach getaner Arbeit, um an Tischen mit großen Wasserbehältern das hochprozentige Destillat mit einigen eiskalten Tropfen Wasser zu mischen, bis sich die milchig-grüne Färbung einstellt, für die der Absinth bekannt ist – und ihm den Spitznamen »Grüne Fee« eingebracht hat.
Doch die Begeisterung für das Getränk ist nicht folgenlos.
Macht Absinth krank?
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts beginnen sich Berichte von Ärzten zu häufen, es gäbe in der Bevölkerung immer mehr gesundheitliche Probleme. Sprachstörungen, Halluzinationen, schließlich sogar Todesfälle werden auf übermäßigen Absinthgenuss zurückgeführt. Zusammengefasst werden die Symptome unter dem neuen Begriff Absinthismus.
Gelehrte führen Tierstudien durch, um die anekdotischen Beobachtungen mit handfesten Belegen zu untermauern: Sie verabreichen Mäusen ein Wermutextrakt und vergleichen die Effekte mit jenen des Alkoholkonsums. Daraus ziehen sie den Schluss, dass tatsächlich das im Absinth enthaltene Thujon am Krankheitsbild schuld sei.
Auch abseits der Medizin formiert sich Widerstand gegen Absinth: Eine Abstinenzbewegung entsteht, die vor allem von der Kirche und konservativen Kreisen getragen wird. Sie wollen Sittenverfall und sogar revolutionäre Tendenzen durch den Konsum von Absinth erkennen. Viele Weinbauern schließen sich der Bewegung an – sie argumentieren, dass ja der Alkohol allein unbedenklich sei. Tatsächlich sehen sie in dem immer populäreren Getränk, das noch dazu relativ günstig hergestellt werden kann, eine ernst zu nehmende Konkurrenz.
Der französische Staat bleibt davon lange Zeit unbeeindruckt, denn die steuerlichen Einnahmen aus dem Absinthverkauf sind nicht unerheblich. Erst als ein Familienmord, der sich im August 1905 im schweizerischen Commugny am Genfer See ereignet, als Folge von Absinthmissbrauch erklärt wird, kippt die Stimmung. Und zwar beinah in allen Ländern Europas.
Absinth wird verboten
Den Anfang macht die Schweiz. Dort wird am 13. Juni 1910 ein Verbot beschlossen. Fabrikation, Einfuhr, Transport, Verkauf und Aufbewahrung zum Zweck des Verkaufs werden untersagt. Das Verbot tritt im Oktober desselben Jahres in Kraft. Wenige Jahre später, 1914, wird der Absinth auch in Frankreich verboten. Die USA und ein Großteil der europäischen Staaten folgen diesem Beispiel kurz darauf.
Für viele Destillerien bedeutet es das Ende. Der größte Hersteller Pernod versucht seine Produktion nach Spanien zu verlegen, steigt aber schließlich auf Pastis um, weil er keinen Wermut enthält. Im schweizerischen Val-de-Travers, wo die Geschichte des Absinths begann, trifft das Verbot viele Produzenten zwar hart, aber es wird weiterhin schwarz gebrannt. Ein Grund, weshalb dort manche Destillerien stolz auf rund 250 Jahre ununterbrochene Herstellung von Absinth verweisen.
Dass die Destillerien dies heute so offen zugeben, hängt damit zusammen, dass Absinth mittlerweile wieder frei erhältlich ist. Grund dafür ist eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 1998, mit der die Produktion von Absinth wieder freigegeben wurde. Allerdings darf das fertige Getränk einen bestimmten Gehalt an Thujon nicht überschreiten. Dabei wäre eine Senkung des Thujiongehalts wohl ohnehin nicht nötig gewesen. Wie Forscher in den 2000er Jahren herausfanden, enthielt der klassische Absinth wohl weit weniger Thujon als bis dahin angenommen. Ebenso zweifeln Experten, dass die Resultate jener Tierversuche, welche die Substanz als Verursacher des Absinthismus ausmachten, korrekt waren.
Das lässt den Schluss zu, dass der Absinthismus, den die Gelehrten gegen Ende des 19. Jahrhunderts diagnostizieren, tatsächlich nichts anderes war als jene Krankheit, die der schwedische Arzt Magnus Huss im Jahr 1862 erstmals in Frankreich identifiziert hatte: Alkoholismus.
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