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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte der Postrakete und einer Idee, die niemals zündete

Gerhard Zucker war Visionär, Raketenbauer und äußerst robust, was den Umgang mit Misserfolgen anging. Unsere Geschichtskolumnisten Hemmer und Meßner erzählen von einem tragischen Helden des Postwesens.
Zucker mit einer Rakete in Brighton
Gerhard Zucker mit einer seiner Raketen im südenglischen Brighton. Mit solchen Fluggeräten wollte der deutsche Ingenieur Post befördern.

Die Insel Scarp, Teil der Äußeren Hebriden an der Westküste Schottlands, ist winzig, heute unbewohnt und lädt all jene zum Träumen ein, die absolute Einsamkeit suchen: Tückische Gewässer und eine meist raue See machen die Überfahrt zur in Sichtweite gelegenen großen Nachbarin Harris oftmals unmöglich, schneiden die Insel tagelang von der Außenwelt ab. Als Träumer kam auch der deutsche Ingenieur Gerhard Zucker hierher. Auf Scarp, diesem übersehenen Flecken im Nordatlantik, der bis in die 1940er Jahre noch Heimat von rund 100 Seelen war, wollte er 1934 die Grenzen der modernen Technologie ausloten und der Welt eine bahnbrechende Idee präsentieren.

Raketen, immer wieder Raketen: Sie faszinierten den im Jahr 1908 geborenen Sohn eines Milchbauern schon von Kindesbeinen an. Damals war die Technik noch nicht ansatzweise verstanden. Pioniere schraubten an den besten Designs, probierten unterschiedliche Treibstoffe und jagten dabei eine unüberschaubare Zahl von Fluggeräten in die Luft.

Auch Zucker war ambitioniert. Er überredete seinen Vater, etwas von seinem Land zu verkaufen, um ihm den Einstieg in die Raketentechnik zu ermöglichen. Der Junge dachte an eine Art Luftfotografie: Mit Kameras bestückte Raketen wollte er in die Höhe schießen, um von dort aus Aufnahmen zu machen. Sein eigentliches Ziel war jedoch die Revolution eines weit alltäglicheren Bedürfnisses: Die Zustellung von Briefen sollte um Größenordnungen beschleunigt werden, natürlich mit Hilfe von Raketen.

Ganz allein war Zucker mit dieser Idee nicht. Obwohl sich zu jener Zeit bereits das Telefon etabliert hatte, Fernschreiber aufkamen und ohnehin Eisenbahn, Lkws und auch Flugzeuge zur Verfügung standen, scheinen die Pioniere in der Postrakete entscheidendes Potenzial gesehen zu haben, vor allem, was die Versorgung schwierig zu erreichender Orte anging. Einer der Vorreiter dieser Transportart war ein Österreicher namens Friedrich Schmiedl, der schon im Jahr 1931 eine Rakete vom steirischen Schöckl aus nach St. Radegund schoss und damit mehr als 100 Briefe transportierte.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Zur selben Zeit experimentierte Zucker ebenfalls an einer Postrakete, allerdings einige hundert Kilometer nördlich. Im Gegensatz zu denen Schmiedls liefen alle seine Experimente ins Leere. Stets explodierten Zuckers mit Schießpulver betriebene Raketen, noch bevor sie ihr Ziel erreichten, und zerlegten sich selbst samt ihrer papiernen Fracht. Der Ingenieur gab nicht auf, stellte sein Vorhaben jedoch vorerst zurück, um für die Firma Eisfeld zu arbeiten. Die experimentierte zwar auch mit Raketen, allerdings nicht für den Brieftransport, sondern als Antrieb für Züge. Lange ließ sich Zucker indessen nicht von seinem Plan abhalten. Im Jahr 1933 begann er erneut Postraketen zu konstruieren, diesmal auf Basis besser geeigneter Treibstoffe. Zumindest behauptete er das.

Spektakel vor Cuxhaven

Als er die erste Rakete dieser Art am 9. April 1933 in Duhnen bei Cuxhaven testete, waren nicht nur Journalisten, sondern auch eine große Menge Schaulustiger dabei. Jeder von ihnen wurde Zeuge, wie sich Zuckers Rakete über dem Cuxhavener Watt kühn in die Lüfte erhob, nach knappen 15 Metern die Vorwärtsbewegung einstellte und wie ein Stein zu Boden plumpste. Zucker schob die Schuld auf den Ballistiker, den er im Vorfeld konsultiert hatte. Aber wie sich später herausstellte, hatte Zucker herkömmliche Feuerwerksraketen verwendet.

Gerhard Zucker | Der 1908 geborene Tüftler experimentierte zeitlebens mit Raketen. Seine Leidenschaft brachte ihn zweimal ins Gefängnis und in den Ruf, ein deutscher Spion zu sein.

Weitere Versuche wurden ihm von den deutschen Behörden untersagt. Als Zucker im Sommer 1934 eine Einladung zur APEX, der International Airmail Exhibition, in London erhielt, nahm er sie darum dankend an. Und zumindest was seine Pläne einer Postrakete anging, war es eine gute Entscheidung. Er traf dort nämlich auf C. H. Dombrowski, einen Briefmarkenhändler, der von der Idee einer Postrakete begeistert war. Gemeinsam gründeten sie das British Rocket Syndicate. Mit Startkapital, zur Verfügung gestellt von Dombrowski, sollte Zucker nun genügend finanzielle Möglichkeiten haben, seine Pläne in die Tat umzusetzen.

Dombrowski erwartete sich im Gegenzug stattliche Erlöse durch den Verkauf eigener Briefmarken, die speziell zu diesem Zweck gedruckt werden sollten. Abwegig war das nicht: Für die Briefmarken, die Zucker bei seinem Versuch in Duhnen verwendet hatte, zahlten Sammler zu jenem Zeitpunkt bereits das 800-Fache ihres ursprünglichen Werts.

Als Dritter im Bunde stieß schließlich der Philosoph Robert Hartman zum Rocket Syndicate. Zucker – ein ausgewiesener Antifaschist jüdischer Herkunft – hatte ihm erklärt, er habe Deutschland wegen der Nationalsozialisten verlassen. Dass er vor seiner Abreise nach England seine Technologie der deutschen Luftwaffe angeboten hatte, verschwieg er geflissentlich.

Das British Rocket Syndicate geht an den Start

Zu dritt verfolgten sie nun das Projekt Postrakete mit aller Anstrengung. An Hindernissen mangelte es nicht. Der Treibstoff etwa, den Zucker benötigte, ließ sich nicht mehr beschaffen, weil der deutschen Herstellerfirma der Export verboten worden war. Das Trio schickte daraufhin Dombrowskis Ehefrau nach Deutschland, um den Treibstoff außer Landes zu schmuggeln, was ihr jedoch nicht gelang.

Zucker musste überall improvisieren. Abermals griff er auf Pulver zurück. Auch weiteres Zubehör, wie zum Beispiel das passende Schmiermittel, stand ihm nicht zur Verfügung. Er wich auf Butter aus.

Die erste Rakete, die aus dieser Kooperation hervorging, wurde bereits am 6. Juni 1934 getestet. In den South Downs, nahe der Stadt Eastbourne im Süden Englands, ließ das Syndikat eine Rakete steigen. Zucker hatte, zumindest was das Marketing anging, ein bisschen dazugelernt. Statt einer großen Menschenmenge begleiteten den Start nur seine Mitstreiter sowie ein Redakteur und ein Fotograf der Tageszeitung »Daily Express«.

Die Rakete, beladen mit 1000 Briefen, hob tatsächlich ab, legte aber nur eine Distanz von einer Meile oder rund 1,6 Kilometern zurück. Zu wenig, um von einem Erfolg zu sprechen. Die Briefe mussten nach der Landung entnommen und über ein herkömmliches Postamt verschickt werden. Der »Daily Express« ließ es sich dennoch nicht nehmen, am andern Tag mit der Schlagzeile »FIRST BRITISH ROCKET MAIL« aufzumachen. Das wiederum rief die britische Regierung auf den Plan, die nun das Syndikat tatkräftig unterstützte und zu einem weiteren Testflug ermunterte.

Auf Scarp hält kurz die Moderne Einzug

Welcher Ort würde sich dafür besser eignen als eine abgelegene Insel wie Scarp, die vom Postboten bislang nur mit dem Boot erreicht werden konnte? Und das auch nur bei gutem Wetter, was, wie jeder bestätigen kann, der an der Westküste Schottlands Zeit verbracht hat, eher der Ausnahme als dem Normalfall entspricht. Ein Telefon hatten die Einwohner ebenfalls nicht. Nun sollten sie in den Genuss der modernen Kommunikationstechnik kommen, die bereits in Gestalt der Postrakete aus dem Süden des Vereinigten Königreichs herannahte.

So wurde am 31. Juli 1934 eine Rakete auf Scarp gestartet, die in einer Distanz von 1600 Metern auf der östlich gelegenen Insel Harris landen sollte. Sie war einen knappen Meter lang, hatte einen Durchmesser von 18 Zentimetern und war mit 1200 Briefen befüllt, die allesamt mit den eigens dafür produzierten Briefmarken frankiert waren.

Die Rakete erreichte nicht einmal das Wasser, explodierte direkt nach dem Start und verteilte viele Briefe, teils brennend, über dem gesamten Strandabschnitt.

Immerhin konnte ein Großteil davon gerettet und mit der herkömmlichen Post versandt werden. Für Dombrowski, den Briefmarkensammler, war es wahrscheinlich ein kleiner Trost, dass diese Briefe und vor allem die Briefmarken im Lauf der Zeit zu wahren Sammlerstücken wurden.

Zwischenzeitlich hatte Zucker eine weitere Rakete am Himmel zwischen Scarp und Harris explodieren lassen. Diesmal stand die Rampe auf dem größeren Eiland. Geholfen hatte es nichts.

Das Ende eines Traums

Die Versuche auf den Orkneys sollten die Höhepunkte der Raketenambitionen Zuckers bleiben. Nach einem weiteren erfolglosen Versuch wies ihn die Regierung an, die Erprobungen nur noch auf Artillerietestgeländen durchzuführen, und kurz darauf wurde Zucker sogar verhaftet. Er hatte eine nicht unbeträchtliche Menge Schießpulver an einem Bahnsteig vergessen.

Aus dem Gefängnis kam er zwar wieder frei, doch das Gerücht, er sei ein deutscher Spion, ging nun um, so dass er im Jahr 1936 ausgewiesen wurde und wieder nach Deutschland zurückkehrte. Dort wurde er umgehend verhaftet. Laut eigenen Aussagen auf Grund von Hochverratsverdacht. In Wahrheit störte sich die deutsche Justiz daran, dass er im belgischen Ostende Briefmarken für Flüge verkauft hatte, die niemals stattgefunden hatten.

Erst 16 Monate später kam er wieder auf freien Fuß. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs wurde Zucker Mitglied der Luftwaffe, in der er bis zu einer Verletzung im Jahr 1944 verblieb.

Die Raketenleidenschaft ließ ihn auch danach nicht los. Während der 1960er und 1970er Jahre zündete er weitere Raketenversuche. Einer davon endete nicht nur im Misserfolg, sondern nahm einen tragischen Ausgang: Am 7. Mai 1964 schleuderte die Explosion seiner Rakete Teile in die Zuschauermenge und tötete zwei Jungen.

Als Zucker am 4. Februar 1985 starb, hatte er mehr als ein Dutzend Postraketen in den Himmel steigen lassen und keinen einzigen Brief zugestellt. Die Briefmarken seiner diversen Versuche allerdings erfreuen sich bei Sammlern noch heute großer Beliebtheit.

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