Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte vom großen Samenraub
Wer sich das Zeitalter der Industrialisierung vorstellt, denkt wahrscheinlich an Kohle oder Stahl, vielleicht noch an Baumwolle. Aber vermutlich eher weniger an Kautschuk. Dabei war die Gummiproduktion einer der wichtigsten Industriezweige um 1900. Was für uns heute der Ölpreis ist, war damals der Preis für Kautschuk.
Anfang des 20. Jahrhunderts stammte der Rohstoff für den weltweit produzierten Gummi fast ausschließlich von Kautschukbäumen in Brasilien und dem Kongo. Hevea brasiliensis ist bis heute der bedeutendste Lieferant des dafür nötigen Ausgangsmaterials. Der Name des Baums deutet schon auf den Ort, an dem diese Geschichte beginnt: im brasilianischen Amazonasgebiet. Dort wurde Kautschuk schon lange vor der Industrialisierung von der indigenen Bevölkerung verwendet, etwa um Bälle herzustellen.
Mit den Reifen kommt der Kautschukboom
Wenn die Rinde des Kautschukbaums verletzt wird, läuft eine milchige Flüssigkeit heraus, die als Latex bezeichnet wird. Die Flüssigkeit lässt sich in Behältern auffangen und dann zu Gummi weiterverarbeiten. Der Name »Kautschuk« geht auf eine indigene Sprache Perus zurück und bedeutet »Tränen des Baums«. Diesen Namen hat der Franzose Charles Marie de La Condamine übernommen, der von 1735 bis 1745 auf einer wissenschaftlichen Expedition im Amazonasgebiet unterwegs war.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.
Besonders große Bedeutung hatte Kautschuk in Europa zu der Zeit noch nicht. Das änderte sich mit zwei Erfindungen: der Vulkanisation und dem Luftreifen. 1839 verwandelte Charles Goodyear den Kautschuk in elastischen Gummi, indem er ihn mit Schwefel und einigen anderen Stoffen erhitzte, 1888 patentierte John Dunlop den luftgefüllten Fahrradreifen.
Anfang des 20. Jahrhunderts war Gummi dann allgegenwärtig: Nicht nur Reifen, auch viele Alltagsgegenstände wurden aus Kautschuk hergestellt – von Schläuchen und Dichtungen für die Industrie bis hin zu Schuhsohlen oder Bällen. Den größten Kautschukbedarf hatte die Autoindustrie. Henry Ford führte mit dem »Model T« die Fließbandarbeit ein und machte das Auto zu einem erschwinglichen Massenprodukt. Es wäre noch viel günstiger gewesen, hätte es keine Reifen benötigt: Bei einem 1000 Dollar teuren Auto schlug der Satz Goodyear-Reifen mit 400 Dollar zu Buche.
Der Kautschukboom machte die Region im Amazonas zu einem der reichsten Gebiete Brasiliens. Der Kautschuk dort wurde nicht in Plantagen gewonnen, weil die Bäume mit Abstand voneinander stehen mussten. Maximal zwei Bäume pro Hektar waren erlaubt, andernfalls drohte ein Befall mit dem Pilz Microcyclus ulei. Daher wurde er auch als wilder Kautschuk bezeichnet. Das zweite große Gebiet, in dem Kautschuk gewonnen wurde, war der Kongo in Afrika. Dort errichtete der belgische König Leopold II. ein grausames Zwangsarbeitssystem, das als Kongogräuel in die Geschichte einging.
Henry Wickham als Biopirat
Die Kolonialmächte – insbesondere England – erkannten, dass Kautschuk für sie immer wichtiger wurde. Um Anbau und Weiterverarbeitung selbst in die Hand zu nehmen, sollten die Kautschukbäume in ihren eigenen Kolonien stehen. Idealerweise in Plantagen, die effizienter zu bewirtschaften wären als die wilden Kautschukbäume. Nur wuchs bislang eigentlich kein Kautschukbaum in Asien. Hier kommt Henry Wickham ins Spiel.
Vom Direktor der Royal Botanic Gardens in London bekam der englische Südamerikareisende und Entdecker den Auftrag, Samen des Kautschukbaums nach England zu bringen. Wie der Sachbuchautor Joe Jackson in seinem Buch »The Thief at the End of the World« schreibt, kannte Wickham die Gegend im Amazonasgebiet recht gut. Das Ausführen von Kautschuksamen aus Brasilien war jedoch illegal, so dass Wickham, nachdem er 1876 ein Jahr lang gesammelt und schließlich 70 000 Samen beisammen hatte, sie falsch deklarierte und nach London brachte. Dort ließ man die Samen aufgehen und nach Singapur verschiffen. Die wenigsten Pflanzen überlebten die Überfahrt, doch es waren genug, um sie dort für Plantagen weiterzuzüchten.
Vom wilden Kautschuk zur Plantage
Nach einiger Zeit entstanden riesige Plantagen, bei denen die Bäume viel enger stehen konnten als in Brasilien – denn in Südostasien drohte kein Pilzbefall. Im Jahr 1898, also 22 Jahre nach Wickhams Akt der Biopiraterie, war es dann so weit: Zum ersten Mal konnte Kautschuk aus Malaysia verkauft werden. Die anderen Kolonialmächte zogen bald nach, und so entstanden weitere Plantagen in Südostasien, unter anderem in Indonesien, Vietnam und Kambodscha.
Innerhalb weniger Jahrzehnte drehte sich das Verhältnis komplett: Kamen 1905 noch 99,7 Prozent des weltweiten Kautschuks von wilden Kautschukfarmen, waren es 1922 nur noch 6,9 Prozent. Der ganze Rest wurde auf Plantagen in Südostasien gewonnen.
Synthetischer Kautschuk und die Weltkriege
Der Erste Weltkrieg führte in der Geschichte des Kautschuks zu einem bedeutenden Einschnitt. Vielen Staaten, insbesondere dem Deutschen Reich und den USA, wurde in der Kriegswirtschaft schmerzlich bewusst, wie abhängig sie vom Kautschukimport waren. Es setzten daher vermehrt Versuche ein, Kautschuk synthetisch herzustellen – was 1926 mit Styrol-Butadien-Kautschuk auch gelang. Für eine Massenproduktion waren die Kosten aber viel zu hoch.
Die Nationalsozialisten hatten keine andere Wahl, da sie von Importen abgeschnitten waren, und ließen große Mengen des Buna (Butadien und Natrium) genannten Ausgangsstoffs für den Krieg produzieren. Dazu zwangen sie auch KZ-Häftlinge in der Nähe des Konzentrationslagers Auschwitz, im Lager Auschwitz III Monowitz. Einer der wenigen Überlebenden dieses Lagers war der Schriftsteller Primo Levi, der in einem seiner Bücher (»Ist das ein Mensch?«) über seine Zeit dort berichtete.
Der Styrol-Butadien-Kautschuk ist bis heute der wichtigste synthetische Kautschuk. Doch selbst wenn es inzwischen eine große Vielfalt von Alternativen mit anderen chemischen Zusammensetzungen gibt, hat der Naturkautschuk nicht ausgedient – aus ihm werden nicht nur Kondome produziert, sondern beispielsweise auch zahllose Autoreifen oder Matratzen. Millionen Tonnen »Baumtränen« laufen dazu die Bäume herab, und das vor allem in Südostasien. Henry Wickhams Samenraub wirkt bis heute nach.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben