Direkt zum Inhalt

Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte über eine Chemikalie, die deutsche Spione lockte

Für Kunststoff brauchte man Phenol, doch mit dem Ersten Weltkrieg wurde der Stoff knapp in den USA. Der Erfinder Thomas Edison schuf Abhilfe, was prompt deutsche Agenten auf den Plan rief, wie unsere Kolumnisten erzählen.
Sprengstoffherstellung im Ersten Weltkrieg
Französische Arbeiter befüllen Granaten mit Sprengstoff während des Ersten Weltkriegs. Für die Herstellung verwendete man damals auch die Chemikalie Phenol.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Der Erfinder Thomas Edison hatte ein Problem. Seine Labore entwickelten nicht nur Filmkameras, Glühlampen und einen Audiorekorder, den Phonographen, sondern auch eine neue Schallplatte. Edison brachte seine Diamond Disc 1911 auf den Markt. Die neuen Platten hatte einen entscheidenden Vorteil gegenüber den üblichen Schellackscheiben: Sie waren bruchfest, weil sie aus einem phenolhaltigen Kunststoff bestanden. Mit dieser Chemikalie, die aus Teer gewonnen wird, lassen sich zahlreiche Kunstharze herstellen. So weit, so gut für Edison – doch alsbald musste der US-Erfinder seine Schallplattenproduktion zurückfahren. In den USA war das Phenol knapp geworden.

Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten die Briten ihre Phenolexporte stoppen müssen, da sie die Chemikalie für die Herstellung von Granaten selbst brauchten. Aus Phenol lässt sich nämlich auch Pikrinsäure synthetisieren – ein hochexplosiver Stoff und damals essenzieller Bestandteil von Granaten. Pikrinsäure verursachte eine der größten nicht nuklearen Explosionen der Menschheitsgeschichte, die durch einen Unfall zu Stande kamen. Am 6. Dezember 1917 zerriss es den französischen Munitionsfrachter »Mont Blanc« im Hafen des kanadischen Halifax, die Explosion verwüstete die Umgebung. Das Schiff hatte 2300 Tonnen Pikrinsäure an Bord.

Da Phenol in den USA damals nur in geringen Mengen gewonnen wurde, stieg der Preis mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs extrem an. Nicht nur Edison, sondern auch der Chemie- und Pharmakonzern Bayer war davon betroffen. Die deutsche Firma betrieb seit 1903 in Rensselaer am Hudson River in der Nähe von New York eine Aspirinfabrik. Denn Phenol ist ein echtes Multitalent. Daraus lassen sich Kunstharz, Sprengstoff und das am meisten verabreichte Medikament der Welt produzieren: Acetylsalicylsäure, besser bekannt unter seinem Markennamen Aspirin. Doch bis April 1915 musste Bayer die Aspirinproduktion fast vollständig einstellen. Phenol aus dem Deutschen Kaiserreich zu importieren, war auf Grund der britischen Seeblockade nicht möglich.

Schallplatten, Sprengstoff, Aspirin – drei gute Gründe für eine Verschwörung

Und so nahm die Phenol-Verschwörung ihren Anfang: Die deutsche Regierung befürchtete nämlich, dass US-Chemiekonzerne eine eigene Produktion aufbauen könnten und am Ende die deutschen Kriegsgegner mit noch mehr Phenol versorgen würden. Hier kam nun der deutsche Botschafter in den USA ins Spiel, Johann Heinrich von Bernstorff (1862–1939). Er erhielt den Auftrag, gemeinsam mit Heinrich Albert, einem Vertreter des deutschen Innenministeriums, nach außen hin gute Stimmung zu verbreiten, um einen Kriegseintritt der USA zu verhindern. Gleichzeitig sollten die beiden dafür sorgen, dass die amerikanische Industrie den Alliierten in Europa möglichst wenig Hilfe bereitstellen konnte.

Die beiden Deutschen finanzierten und organisierten zahlreiche Sabotageaktionen gegen die amerikanische Industrie und militärische Einrichtungen. Doch bald erkannten sie, dass sie in Sachen Phenol energischer tätig werden mussten. Den richtigen Ansatzpunkt lieferte Thomas Edison. Er war die Situation leid gewesen und hatte 1915 kurzerhand eine eigene Phenolfabrik gebaut. Dort produzierte er täglich mehrere Tonnen des begehrten Stoffs – mehr, als er benötigte. Den Rest wollte er auf Grund des hohen Preises sehr gewinnbringend verkaufen. Aber an wen?

Als von Bernstorff sah, dass sich militärnahe Firmen um das Phenol bemühten, entwickelte er mit Albert folgenden Plan: Hugo Schweitzer, ein ehemaliger Bayer-Mitarbeiter in den USA, der sich inzwischen selbstständig gemacht hatte, wurde mit reichlich Geld ausgestattet. Die Wahl fiel nicht zufällig auf ihn. Bereits vor dem Krieg war er als Agent vom deutschen Geheimdienst angeworben worden. Über eine Tarnfirma, die Chemical Exchange Association hieß, sollte er Edison das überschüssige Phenol abkaufen – und an Bayer weiterleiten. Die Chemical Exchange Association hatte zwar keinerlei Referenzen vorzuweisen, doch Edison verlangte lediglich eine hohe Kaution und stellte sonst keine weiteren Fragen.

Ein dilettantisches Missgeschick ließ den Deal auffliegen

Drei Tonnen Phenol verkaufte Edison täglich an die Tarnfirma, wie der Journalist Diarmuid Jeffreys in seinem Buch »Aspirin: The Remarkable Story of a Wonder Drug« schreibt. Bayer war bald wieder mit genügend Phenol versorgt, die Aspirinproduktion lief erneut an und die US-Industrie hatte keine weiteren Kapazitäten, um die Briten mit Pikrinsäure zu unterstützen.

Es lief alles nach Plan aus Sicht der deutschen Verschwörer – allerdings nur kurzzeitig. Denn am 24. Juli 1915 unterlief Albert ein folgenschwerer Fehler. Der US-Geheimdienst hatte ihn schon länger auf dem Radar, da vergaß er auf dem Weg nach Manhattan seine Aktentasche im Zug. Darin befanden sich Dokumente, die viele Einzelheiten über die Phenol-Verschwörung verrieten. Die Akten fielen dem US-Geheimdienst in die Hände. Der reichte die Unterlagen an eine Zeitung weiter, und so erschien am 15. August 1915 in der »New York World«, die für ihre investigativen Recherchen bekannt war, eine Titelgeschichte mit Auszügen aus den geheimen Dokumenten: »How Germany has worked in U.S. to shape opinion, block the allies and get munitions for herself. Told in secret agent’s letters«, titelte die Zeitschrift.

Damit war der Phenol-Deal, auch »Great Phenol Plot« genannt, Geschichte. Insbesondere stieg der öffentliche Druck auf Edison, den Verkauf kriegswichtigen Materials an eine deutsche Firma zu beenden. Edison fürchtete einen Imageschaden und leitete das überschüssige Phenol fortan an das US-Militär weiter. Der Zeitpunkt war insofern heikel, als die USA noch keine Kriegspartei waren. Doch kurz bevor die Phenol-Verschwörung aufflog, hatte ein deutsches U-Boot das Passagierschiff »Lusitania« versenkt. Beim Untergang starben mehr als 100 US-Bürger, was zu einem Stimmungsumschwung führte – die US-Kriegserklärung erfolgte schließlich zwei Jahre später, im April 1917.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.