Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte vom Erfinder des eisfreien Nordpolarmeers
Im Juli 1879 brachen 33 Seeleute in San Francisco zu einer Expedition auf. Mit der »USS Jeanette« wollten sie zum Nordpol vordringen – was zuvor noch niemandem gelungen war. Der Zeitungsverleger James Gordon Bennett vom »New York Herald« finanzierte die Fahrt in den Norden, weil er überzeugt war, das Nordpolarmeer sei eisfrei. Der Nordpol selbst solle zwar von gefürchtetem Packeis umgeben sein, das schon viele Schiffe zerquetschte und versenkte, aber Bennett war sicher: Es gebe warme Strömungen, die das Eis im Nordpolarmeer verdrängen würden.
Wer den Packeisgürtel überwindet, so die Idee, kann einfach bis zum Nordpol weiterfahren. Eine fatale Fehleinschätzung. Bereits im September 1879 wurde die »USS Jeanette« vom Eis eingeschlossen und die Crew driftete zwei Jahre lang umher. Schließlich wurde das Schiff von den Eismassen zerdrückt und ging vor der sibirischen Küste unter. Nur 13 der Expeditionsteilnehmer überlebten. Damit war 1881 die Theorie vom eisfreien Nordpolarmeer endgültig vom Tisch. Einer der Überlebenden schrieb später über die Expedition: »Erbittert verfluchten wir Petermann und all seine Werke, die uns in die Irre geführt hatten.«
Ein deutscher Kartograf machte Karriere in London
Gemeint war August Petermann. Einer der einflussreichsten Kartografen seiner Zeit, der als glühender Verfechter der Theorie vom eisfreien Nordpolarmeer zahlreiche Expeditionen dorthin anregte – selbst aber nie in die Polarregion aufgebrochen war und das Reisen auf Papier bevorzugte.
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Zum ersten Mal fiel Petermann mit der Theorie vom Nordpolarmeer ohne Eis 1852 bei der Royal Geographical Society in London auf. Petermann, 1822 im thüringischen Bleicherode geboren, gelang es, sich als Kartograf in der Weltstadt einen Namen zu machen. Die Franklin-Expedition, das Prestigeprojekt der britischen Royal Navy, war bereits seit sieben Jahre verschollen. Das Hoffnung auf ein Lebenszeichen wich von Jahr zu Jahr der Gewissheit, dass die Expedition ein katastrophales Ende genommen hatte.
Sir John Franklin (1786–1847) leitete die Forschungsreise, auf der erstmals die Nordwestpassage durchfahren werden sollte. Es wurden zahlreiche Rettungsmissionen entsandt, aber keine konnte das Schicksal der Crew und der beiden Schiffe »Erebus« und »Terror« klären. Petermann hatte allerdings noch eine Lösung im Angebot.
Wie Petermann die Polarforschung beeinflusste
Er behauptete zu wissen, wo sich Franklin mit seiner Crew aufhielt. Seine sorgfältigen Berechnungen hätten nämlich ergeben, dass die Schiffe im offenen Polarmeer herumfahren würden. Die Royal Navy entschied sich zwar gegen eine Rettungsmission zum Nordpol, jedoch sorgte Petermann in den nächsten Jahrzehnten für einen Kurswechsel, wie Philipp Felsch in seinem Buch »Wie August Petermann den Nordpol erfand« erläutert: Hatten sich Polarforscher bislang vor allem auf die Durchfahrt der Nordwestpassage konzentriert, begann nun das Rennen um das Erreichen des Nordpols – ausgelöst durch Petermanns Vision eines großen, schiffbaren Arktischen Ozeans.
Als Route zum nördlichsten Punkt der Erde schlug er einen Weg durch die Barentssee vor, zwischen der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen und der russischen Doppelinsel Nowaja Semlja. Die Idee vom eisfreien Polarmeer war nicht neu. Willem Barents etwa, ein niederländischer Seefahrer des 16. Jahrhunderts, vertrat die Theorie ebenfalls. Er gilt nicht nur als Entdecker von Spitzbergen, sondern auch als der erste europäische Entdeckungsreisende, der in der Arktis überwinterte. Und zwar auf Nowaja Semlja.
Viele Polarreisende erleben ein Phänomen, das man Polynja nennt. Damit werden große, offene Wasserflächen in der Arktis bezeichnet. Polynjas können sich über mehrere 100 Kilometer erstrecken. Bei den frühen Polarforschern erweckten sie wohl den Eindruck, dass es schiffbare Passagen bis zum Nordpol geben müsste.
Startschuss für die Nordpolexpeditionen
Petermann ging 1854 wieder zurück nach Deutschland und nahm eine Stelle als Kartograf in Gotha an. Dort gründete er die Zeitschrift »Petermanns Geographische Mitteilungen«, die zu einer der wichtigsten Fachzeitschriften für die Geografie werden sollte. Sie wurde erst 2004 eingestellt.
Damals war Petermann selbst an keiner Polarexpedition beteiligt. Das sollte sich 1865 ändern. Seinen großen Auftritt hatte er beim 1. Deutschen Geographentag jenes Jahres in Frankfurt am Main, der auch auf Grund seiner Initiative veranstaltet wurde. Das wichtigste Thema der Tagung war: »Die Deutsche Nordfahrt«. In seinem Vortrag forderte Petermann vehement, das Polarmeer zu erforschen. Ginge es nach ihm, sollte die Expedition noch im selben Jahr loslegen.
Tatsächlich fand Petermann einen Korvettenkapitän, der sich bereit erklärte, mit einem gecharterten Dampfer aus England Richtung Spitzbergen zu fahren. Allerdings blieb das Schiff bald nach der Abfahrt aus Hamburg auf der Elbe mit einem Maschinenschaden liegen. Doch nun ging das Rennen der Nordpolexpeditionen erst richtig los. Die treibende Kraft dahinter war Petermann, der für die Finanzierung zahlungskräftige Vertreter der Bremer Kaufmannschaft nach Gotha lotsen konnte. Unter anderem setzte er für das Erreichen des Nordpols eine Belohnung von 5000 Talern aus.
Die Erste Deutsche Nordpol-Expedition startete im Mai 1868 mit zwölf Teilnehmern unter dem Kommando von Carl Koldewey (1837–1908). Petermann war nicht mit an Bord. Im September erreichte das Schiff als nördlichsten Punkt seiner Reise die Nordküste von Spitzbergen – bei 81 Grad und 4 Minuten nördlicher Breite. Dann musste es abdrehen, es stieß auf zu viel Packeis. Im Oktober kehrte die Expedition wieder zurück, ohne eine Passage zum Nordpol gefunden zu haben. Petermann machte sich gleich an die Planungen für die nächste Forschungsreise und beauftragte den Bau eines Schraubendampfers – der »Germania«.
Am 15. Juni 1869 ging es los zur Zweiten Deutsche Nordpolar-Expedition. Diesmal war Kapitän Koldewey mit zwei Schiffen unterwegs – mit der »Hansa« und der »Germania«. Endlich sollte die Frage geklärt werden, ob der Nordpol permanent von Eis bedeckt ist. Es kam allerdings zu einem Missverständnis, die beiden Schiffe verloren sich aus den Augen und die »Hansa« fror im Packeis fest. Kurz darauf wurde das Schiff vom Eis zerquetscht und sank. Die Seeleute auf der »Hansa« retteten sich auf eine Scholle, auf der sie die nächsten 200 Tage insgesamt 1500 Kilometer an der Küste Ostgrönlands entlangdrifteten. Die Crew wurde schließlich gerettet, nachdem es ihr gelungen war, eine Herrnhuter Missionsstation an der Südspitze Grönlands zu erreichen.
Die »Germania« überwinterte und schaffte es durch das Treibeis 1870 wieder zurück nach Bremerhaven. Koldewey war nun überzeugt: Ein eisfreies Nordpolarmeer gibt es nicht. Petermann war enttäuscht, gab aber nicht auf. Er suchte sich neue Verbündete – und fand sie in Österreich.
Überall Packeis und kein Durchkommen im Arktischen Ozean
Für seinen nächsten Versuch kontaktierte er Julius Payer, der bereits an der Zweiten Deutsche Nordpolar-Expedition teilgenommen hatte, und Carl Weyprecht. Petermann finanzierte den beiden einen norwegischen Fischkutter, mit dem sie sich auf den Weg nach Spitzbergen machten. Und tatsächlich, die beiden sahen eine große eisfreie Fläche im Polarmeer und waren davon überzeugt, dass der Weg zum Nordpol vor ihnen liegen würde.
Sofort nach ihrer Rückkehr begannen sie mit der Planung für eine große Expedition. Die Österreichisch-Ungarische Nordpolexpedition startete 1872. Doch das Schiff blieb nach wenigen Monaten im Packeis stecken, driftete dann zwei Winter lang durch das Polarmeer, ehe die Crew im Mai 1874 das Schiff verließ, um nach einem langen und extrem kräftezehrenden Fußmarsch Richtung Süden tatsächlich die Packeisgrenze zu erreichen. Die Mannschaft war gerettet, den Nordpol hatte sie allerdings nicht erreicht.
War die Idee vom eisfreien Nordpolarmeer nun endgültig vom Tisch? Nicht ganz. Petermann blieb weiterhin felsenfest davon überzeugt, dass der Nordpol mit dem Schiff angefahren werden könnte. Und so kam es ihm gerade recht, als der New Yorker Zeitungsverleger James Gordon Bennett nach Gotha reiste, um über eine Nordpolexpedition zu sprechen. Am 8. Juli 1879 stach die »USS Jeanette« von San Francisco aus in See und es begann ein Drama, das 20 Expeditionsteilnehmer nicht überlebten.
Der Mythos vom eisfreien Nordpolarmeer wird Wirklichkeit
Jetzt allerdings war die Theorie vom eisfreien Nordpolarmeer endgültig passé. Nicht nur, weil wieder eine Expedition daran gescheitert war, den Weg zum Nordpol zu finden, sondern, weil der bekannteste Vertreter der Theorie nicht mehr lebte. Kurz vor dem Auslaufen der »USS Jeanette« beging Petermann Suizid. Damit starb einer der einflussreichsten Kartografen des 19. Jahrhunderts, der unter anderem mit der Großen Goldmedaille der Royal Geographical Society ausgezeichnet wurde und sein Leben lang auf der Suche nach dem Seeweg zum Nordpol war.
Das Rennen um den Nordpol war damit nicht vorbei. Es begann nun erst richtig. Aber wer und unter welchen Umständen als Erster den nördlichsten Punkt der Erde erreichte, ist eine andere Geschichte. Der Mythos vom eisfreien Nordpol hingegen wird mittlerweile Realität. Der menschengemachte Klimawandel macht vermutlich schon in den 2030er Jahren wahr, wovon Petermann träumte: mit dem Schiff über den Nordpol zu fahren.
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