Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte des längsten Autorennens der Welt
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»Technologieoffenheit« war schon vor 130 Jahren das Stichwort beim Antrieb: Zu einem »Wettbewerb für Wagen ohne Pferde, ob durch Dampf, Gas oder elektrisch betrieben« von Paris nach Rouen hatte die Zeitung »Le Petit Journal« aufgerufen. Zum ersten Mal lieferten sich die neuen motorisierten Kutschen ein Wettrennen, knatterten knapp sieben Stunden lang über die Pisten von der Seine-Metropole in die 126 Kilometer entfernte Hauptstadt der Normandie. Das war 1894, da war das Automobil im Grunde erst erfunden worden.
Die Sache mit dem Wettbewerb war eine zündende Idee. Fortan stieg die Zahl solcher Stadt-zu-Stadt-Rennen kontinuierlich an, genau wie die Zahl ihrer Teilnehmer und die Höchstgeschwindigkeit der Karossen. Allerdings ohne dass die Sicherheitsvorkehrungen entsprechend angepasst wurden, weder für Fahrer noch für ihr Publikum. Zu einem großen Problem wurde der Belag des Untergrunds. Die meisten Fernstraßen waren in Makadam-Bauweise errichtet, benannt nach ihrem schottischen Erfinder John McAdam. Die mehrschichtigen Schotterstraßen waren zwar grundsolide, haltbar und widerstandsfähig – für Pferdefuhrwerke. Die immer schneller werdenden Automobile erzeugten jedoch einen Unterdruck auf der Straßenoberfläche, der Material aus dem Boden saugte. Daher waren die frühen Autorennen stets von riesigen Staubwolken begleitet. Das Problem wurde später gelöst, in dem der Schotter mit Teer gebunden wurde.
Im Jahr 1903 kam es jedoch zu einer folgenschweren Zäsur. Am 24. Mai 1903 machten sich 179 Autos und 59 Motorräder auf den Weg von Paris nach Madrid. Die Streckenlänge von mehr als 1300 Kilometern bezeugt, mit welchem Technikvertrauen man sich inzwischen hinters Lenkrad klemmte.
Allerdings gelangte das Rennen nicht über die erste Etappe Paris-Bordeaux hinaus. Das Fahrerfeld war gerade von Paris losgekommen, als sich ein verheerender Unfall ereignete, bei dem sieben Menschen ihr Leben verloren. Einer davon war Marcel Renault, der 1898 mit seinen Brüdern Louis und Fernand die gleichnamigen Automobilfirma gegründet hatte. Wie so viele nutzten die Renaults die Rennen zu Werbezwecken, um die neuesten Modelle und ihre Zuverlässigkeit zu präsentieren. Erst im Jahr zuvor hatte Marcel Renault beim Rennen Paris-Wien den ersten großen Triumph der Unternehmensgeschichte eingefahren. Jetzt waren er und sechs weitere Menschen tot. Das Rennen wurde abgebrochen.
Es war nicht der erste schwere Unfall bei einem Autorennen, aber für die französischen Behörden sollte es der letzte werden: Sie verboten sämtliche Wettfahrten auf nicht abgesperrten öffentlichen Straßen. Damit endete die (kurze) Ära der großen Stadt-zu-Stadt-Rennen.
Frankreich und die Wiege des Motorsports
Trotz Carl Benz und Gottlieb Daimler: Das Zentrum der gerade entstehenden Autoindustrie war damals Frankreich, und dies nicht nur dank der publikumswirksamen A-nach-B-Rennen. Hier entstand mit De Dion-Bouton der größte Automobilbauer der Welt. Sein Mitgründer, der Graf Jules-Albert de Dion, war seinerzeit mit seinem selbst gebauten Dampfwagen als Erster in Rouen eingetrudelt, hatte aber das Rennen trotzdem nicht gewonnen, weil die Jury neben der Fahrtzeit auch Kriterien wie Zuverlässigkeit und Bedienungsfreundlichkeit bewertete. So hatten sich zwei mit Benzin betriebene Fahrzeuge, allesamt mit Daimler-Motoren ausgestattet, im Klassement noch vor ihn geschoben.
De Dion fühlte sich um den Sieg betrogen, doch er erkannte die Zeichen der Zeit und ließ die Dampfmobile sein. Bis zur Jahrhundertwende war seine Firma zum Weltmarktführer für Verbrennungsmotoren aufgestiegen.
Mit dem Verbot der Stadt-zu-Stadt-Rennen begann der Siegeszug der Grand Prix. Die neue Attraktion im Motorsport waren nun Geschwindigkeitsrennen, bei denen auf abgesperrten Kursen im Kreis gefahren wurde. Gleichzeitig reiften die Ideen für eine neue Art von Rennen, bei denen ein ganz anderer Reiz im Vordergrund stehen sollte: das Abenteuer.
Ob es wohl jemanden gebe, der diesen Sommer eine Fahrt mit dem Automobil von Peking nach Paris unternehmen werde? Das fragte am 31. Januar 1907 die Pariser Zeitung »Le Matin«. In aller Öffentlichkeit hatte sie damit die Automobil-Enthusiasten herausgefordert, den ultimativen Beweis der Zuverlässigkeit ihrer Gefährte zu erbringen.
Niemand wusste, ob so ein Rennen überhaupt zu schaffen war. Die Rallye über eine Distanz von 16 000 Kilometern war allein deshalb schon herausfordernd, weil die Teilnehmer ihre Fahrzeuge bis zum Juni irgendwie nach Peking verschifft haben mussten. Vor allem aber gab es auf weiten Teilen der Strecke keine befestigten Straßen oder Werkstätten, von Tankstellen ganz zu schweigen. Für den Großteil der Strecke waren die Fahrzeuge überhaupt nicht konzipiert. Es gab Schluchten und Berge, Matsch, tiefen Sand und Brücken, die das Gewicht der Autos nicht tragen konnten. Kurzum: ein herrliches Projekt für Abenteurer, speziell für solche, die auf Prestige aus waren und nicht auf Preisgelder: Zu gewinnen gab es lediglich eine Magnum-Flasche Champagner.
Am Ende waren es fünf Teilnehmer, die am 10. Juni 1907 in Peking losfuhren, und immerhin zwei schafften es tatsächlich ins Ziel. Das Gewinnerauto vom italienischen Fürsten Scipione Borghese mit seinem Mechaniker und Fahrer Ettore Guizzardi erreichte nach exakt zwei Monaten Fahrt, am 10. August, die französische Hauptstadt. 20 Tage später überfuhren Charles Goddard und Jean du Taillis die Ziellinie. Nicht nach Paris schafften es hingegen die beiden Autos von De Dion-Bouton. Der Franzose Auguste Pons musste sein Motordreirad gar in der Wüste Gobi zurücklassen. Nur durch Glück trafen er und sein Team auf hilfsbereite Nomaden, die sie aus der Wüste führten.
In der pferdelosen Kutsche um die Welt
Das hinderte Auguste Pons nicht daran, im nächsten Jahr wieder an einem Rennen teilzunehmen, das noch spektakulärer war. Ein Rennen fast um die ganze Welt: von New York nach Paris. Alle Versuche, die Welt mit dem Auto zu umrunden, waren bislang gescheitert.
Für diese Weltreise hatten sich die Veranstalter noch eine besondere Raffinesse ausgedacht. Damit die Autos nicht den Pazifik per Schiff überqueren müssen, sollten sie zunächst von New York an die Westküste der USA fahren. Von dort würde sie ein Schiff nach Alaska bringen, wo sie über die nur 85 Kilometer breite Beringstraße nach Asien gelangen sollten. Die Meerenge ist im Winter teils zugefroren und somit theoretisch trockenen Fußes passierbar. Doch ob eine Fahrt mit dem Auto über das Eis überhaupt möglich war? Niemand wusste es oder hatte es vorher getestet.
Um die Chance auf festen Untergrund zu erhöhen, startete das Rennen auch im tiefsten Winter: Am 12. Februar 1908 fiel auf dem New Yorker Times Square der Startschuss zum längsten Autorennen der Welt. Mehrere hunderttausend Menschen verfolgten, wie sich sechs Autos mit Teams aus vier Ländern auf den Weg machten: Drei Autos aus Frankreich, und je eines aus Deutschland, Italien und den USA waren dabei. Ausgerechnet die drei französischen Wagen, darunter natürlich auch ein De Dion-Bouton, kamen am Ende nicht ins Ziel. Als Erster musste Auguste Pons aufgeben, nach schlappen 150 Kilometern Fahrt.
Der deutsche Teilnehmer, Hans Koeppen, ein preußischer Offizier, war mit zwei Mitfahrern unterwegs. Ihr Fahrzeug: ein Protos der gleichnamigen Berliner Motorenfabrik. Sie wurde in den 1920er Jahren aufgelöst und ist heutzutage kaum mehr bekannt. Koeppen erreichte mit dem Protos auch als Erster Paris – aber das Rennen gewann er trotzdem nicht.
Was alle Teams einte: Sie unterschätzten die Strapazen dieser Rallye. Es war Winter, es lag viel Schnee auf den Wegen, sie mussten sich häufig freischleppen lassen, überdies war die Ausstattung der Autos nicht auf Winter ausgerichtet. Das amerikanische Fahrzeug, ein Thomas Flyer, hatte weder Heizung noch Windschutzscheibe.
Der Vorsprung schmilzt im Frühling dahin
Lag gerade einmal kein Schnee, versanken die Autos im Schlamm, die Mechaniker waren im Dauereinsatz. Und dennoch: Das US-Team erreichte mit großem Vorsprung San Francisco und schiffte sich wie geplant nach Alaska ein. Im hohen Norden zeigt sich jedoch, dass an eine Überfahrt mit dem Auto nicht zu denken war. Die Rennleitung verwarf daher die Idee mit der Beringstraße und erlaubte stattdessen die Pazifiküberquerung mit dem Schiff. Ziel war der Hafen von Wladiwostok, der Endhaltestelle der Transsibirischen Eisenbahn.
Dort sollte das Rennen neu gestartet werden, was zugleich bedeutete, dass der Vorsprung dahin war, den das amerikanische Teams um George Schuster herausgefahren hatte. Sie forderten eine Zeitgutschrift, die ihnen die Rennleitung auch gewährte: 15 Tage bekamen sie geschenkt. Für die anderen Teams hieß das, dass sie zwei Wochen früher in Paris ankommen mussten als der Thomas Flyer, wenn sie den Sieg holen wollten. Für das deutsche Team um Koeppen kam es sogar noch dicker: Eine Panne hatte sie gezwungen, mit der Eisenbahn an die Westküste der USA zu fahren. Das brachte ihnen eine Zeitstrafe von 15 Tagen ein. Sie mussten folglich einen Monat vor den Amerikanern Paris erreichen, wollten sie diese schlagen.
Im Mai 1909 ging es in Wladiwostok weiter. Und Mai bedeutete Frühling, und Frühling bedeutete Tauwetter. Die Wege waren derart aufgeweicht, dass die Autos auf der Trasse der Transsibirischen Eisenbahn fahren – oder besser: entlangholpern – mussten. Die Rüttelpartie auf den Schwellen zog die Fahrzeuge schwer in Mitleidenschaft, Federn und Achsen ächzten unter der Tortur, Reifen platzten. Immerhin war Verlass auf den Fahrplan, sie schafften es jedes Mal rechtzeitig, die Autos von den Schienen zu heben, ehe die Eisenbahnwaggons sie zu überrollen drohten.
Erster! Und trotzdem nicht gewonnen
Koeppen und Schuster lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen durch Russland, das Koeppen für sich entscheiden konnte. Mit einem Vorsprung von 800 Kilometern erreichte er am 24. Juli 1908 Berlin und zwei Tage später Paris. Fünf Monate und zwei Wochen waren seit dem Start in New York vergangen. Für den Sieg beim längsten Rennen der Welt reichte das freilich trotzdem nicht, denn nur vier Tage später kam auch George Schuster im Flying Thomas in der französischen Hauptstadt an. Der Empfang dort war allerdings eher verhalten, nicht nur waren die beiden französischen Autos längst ausgeschieden, nein, es kam ausgerechnet ein deutsches Modell als Erstes in Paris an.
Das Rennen New York-Paris war der Höhepunkt einer gigantischen Werbetour für das Automobil, schreibt der Schweizer Historiker Christoph Merki in seinem Buch »Der holprige Siegeszeug des Automobils«. Die tuckernden Vehikel hatten als Statussymbole für die vergnügungssüchtige französische Oberschicht begonnen, nun bewiesen die Abenteuerfahrten, was sie zu leisten vermochten. Von da an war der Weg zum Massenmarkt bestenfalls noch ein Kurzstreckenrennen.
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