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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte von den »matchgirls« und ihrem teuflischen Phosphor

Von einem legendären Arbeitskampf erzählen heute unsere Geschichtskolumnisten: Denn gegen den Streichholz-Goliat Bryant & May hatten die Arbeiterinnen eigentlich keine Chance.
Einige der streikenden Arbeiterinnen
Einige der Streikenden aus der Zündholzfabrik Bryant & May. Rund 1400 von ihnen hatten sich am Ende dem Arbeitskampf angeschlossen, um gegen die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Fabrik zu kämpfen.

Was letztendlich das Fass zum Überlaufen brachte, wissen wir nicht. Vielleicht war es die Entlassung einer Kollegin, die sich angeblich den Anweisungen eines Vorarbeiters widersetzt hatte. Vielleicht gab es einen Auslöser, von dem Außenstehende nichts mitbekamen. Sicher ist nur, dass in jenem Juli des Jahres 1888 der Unmut der »matchgirls« explodierte. Die Angestellten der Zündholzfabrik Bryant & May legten die Arbeit nieder – wieder einmal, wieder ungeplant und ohne die eigentlich nötige Vorbereitung. Doch diesmal nimmt der Arbeitskampf eine unerwartete Wendung. Bereits nach kurzer Zeit haben sich 1400 Arbeiterinnen dem Protest angeschlossen. Gemeinsam stellen sie Forderungen an eine Firma, deren Arbeitsbedingungen erst wenige Wochen zuvor öffentlich als Sklaverei gebrandmarkt worden waren.

In der Tat waren die Mädchen und Frauen, die bei Bryant & May im Londoner East End die Hölzchen herstellten, ihrem Arbeitgeber weitgehend ausgeliefert. Den meisten fehlte eine Berufsausbildung, stattdessen saßen sie nun in den Fabrikhallen und schufteten im Akkord, bezahlt nicht nach Stunde, sondern nach getaner Arbeit. Brannten ihnen Streichhölzer ab, wurde ihnen das vom Lohn abgezogen. Ein langer Bußgeldkatalog schmälerte ihr ohnehin schon geringes Gehalt weiter. Abzüge gab es, wenn der Arbeitsplatz nicht sauber genug aufgeräumt war, wenn während der Arbeit geredet wurde oder manchmal einfach nur, weil die Vorarbeiter die Frauen schikanieren wollten.

Streichhölzer mit Reibungszündung, wie wir sie heute kennen, wurden 1826 vom englischen Apotheker John Walker erfunden. Als »Lichtbringer« und passend zum strengen Schwefelgeruch, den sie ausströmten, nannte man sie damals in England »Lucifers«. Das eigentliche Teufelszeug in ihnen kam jedoch erst später hinzu: Weil sie nicht sonderlich zuverlässig zündeten, begannen die Hersteller damit, hochentzündlichen weißen Phosphor beizumengen. Es dauerte nicht lange, bis Phosphorstreichhölzer den Markt dominierten. Sie waren günstig in der Herstellung und brannten zuverlässig. In den Zündholzfabriken allerdings mussten die Beschäftigten fortan mit einem Material hantieren, das sich nicht nur von selbst entzünden konnte, wenn es mit Luft in Kontakt kam, sondern auch noch hochgiftig war. Bereits 50 Milligramm davon können einen Menschen töten. So bezahlten die »matchgirls« für ihren kargen Lohn noch mit der eigenen Gesundheit: Das leichtflüchtige Element füllte die Fabrikhallen mit giftigem Dampf und griff, wie sich herausstellte, besonders die Kieferknochen all jener an, die völlig ungeschützt in den Ausdünstungen ihre Arbeit verrichteten. Der »Phosphorkiefer« gilt als eine der ersten anerkannten Berufskrankheiten überhaupt. Er äußerte sich anfangs durch Zahnschmerzen, dann Schwellungen im Mund, Zähne fielen aus, schließlich starben Teile des Knochens ab. Der Kiefer verlor seine Form, es kam zu heftigen Entzündungen und schlimmstenfalls zum Tod des Patienten.

Billig, aber gefährlich

Zündhölzer waren zu jener Zeit ein massenhaft produziertes Gebrauchsgut und bei fast jedem mehrmals täglich in Verwendung. Seit 1855 gab es zwar schon eine Alternative zu kaufen, aber die Sicherheitszündhölzer, die Johan Edvard Lundström und sein jüngerer Bruder Carl Frans Lundström in Schweden produzierten, setzten sich nur langsam durch. Denn sie waren teurer in der Herstellung, und sie ließen sich nicht an jeder beliebigen rauen Oberfläche anzünden. Das war zwar sicherer, aber auch unpraktischer. Wie unsere heutigen Streichhölzer funktionierten sie nur, wenn das Köpfchen mit einer speziellen Reibefläche in Kontakt kam. Erst dort entstand dann die explosive Mischung. Von Vorteil bei der Herstellung war, dass sie mit rotem Phosphor funktionierten, der ungiftig ist. Doch es dauerte noch Jahrzehnte, bis sich dieses Prinzip durchsetzte und weißer Phosphor verboten wurde.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Unterdessen machten Bryant & May mit der Herstellung von Phosphorstreichhölzern große Gewinne. In ihrer Londoner Fabrik beschäftigten sie zeitweise fast 5000 Personen. In den 1880er Jahren gingen sie an die Börse und zahlten bald ihre Gewinne in Form großzügiger Dividenden aus. Für die Angestellten blieb nur wenig. Ein Umstand, der an einem Vortragsabend der Fabian Society im Juni 1888 für Diskussionen sorgte. Die Fabian Society war eine sozialistische Vereinigung, die später maßgeblich an der Gründung der Labour-Partei beteiligt war. Die Mitglieder der Fabian Society waren sich einig, dass Bryant & May eigentlich boykottiert werden müsste.

Eine Gesellschaft wird auf die Lage der Arbeiterinnen aufmerksam

Annie Besant, Mitherausgeberin einer wöchentlich erscheinenden Zeitung und Mitglied der Fabian Society, wollte sich von den schlechten Arbeitsbedingungen bei Bryant & May selbst überzeugen. Vor dem Firmengelände passte sie Arbeiterinnen ab und befragte sie. Das Ergebnis arbeitete sie zu einem Schriftstück aus, das am 23. Juni 1888 erschien und unter dem Titel »Weiße Sklaverei in London« zum Boykott der Firma aufrief. Das war etwa eine Woche vor Streikbeginn.

Lange Zeit galt Besant daher als Streikführerin. Allerdings rief sie weder die Frauen zum Arbeitskampf auf noch organisierte sie den Streik. Sie hatte sogar den Beginn der Arbeitsniederlegung gar nicht mitbekommen. Erst als eine Delegation der streikenden Frauen bei ihr vorsprach, engagierte sie sich, gemeinsam mit der Fabian Society, die sich um die Streikkasse kümmerte.

Gut möglich aber, dass sie indirekt den Auslöser bildete. Denn als Reaktion auf Besants Schreiben legte die Firma in den Gebäuden Vordrucke aus. Die Arbeiterinnen sollten dort mit ihrer Unterschrift bestätigen, dass die Vorwürfe von Besant haltlos wären. Offenbar unterschrieben aber weniger, als man in der Chefetage hoffte, so dass die Vorarbeiter ihre Untergebenen bald zur Unterschrift drängten. Trotzdem weigerten sich die meisten Frauen. Das könnte ein Grund für den Rauswurf einer der Arbeiterinnen gewesen sein und damit für jenen Eklat, der den Streik in Gang setzte.

Annie Besant (1847–1933) | Die britische Frauenrechtlerin, Theosophin und Sozialistin engagierte sich nicht nur für die Arbeiterinnen Londons, sondern auch für das Selbstbestimmungsrecht der Iren und der Inder. Sie starb im heutigen Chennai, Indien, wo sie bis zuletzt für die Unabhängigkeit des Landes von der britischen Krone gekämpft hatte. Die Aufnahme stammt zirka aus dem Jahr 1897.

Diesmal nimmt der Arbeitskampf Fahrt auf

Der ungeplante Arbeitskampf schien – wie schon seine Vorläufer – zum Scheitern verurteilt, niemand traute den Arbeiterinnen einen nennenswerten Erfolg zu. Doch dank guter Organisation verpuffte ihr Schwung diesmal nicht: Die Frauen bildeten ein Streikkomitee, organisierten große Kundgebungen, Zeitungsberichte erhöhten den öffentlichen Druck auf Bryant & May, und es wurde eine Streikkasse eingerichtet. Besant stellte den Kontakt zum britischen Parlament her. Mit 56 Arbeiterinnen machte sie sich am 11. Juli auf den Weg ins Zentrum Londons, wo die Gruppe auf drei Abgeordnete traf. Dass die Streichholzfrauen, die selbst unter Fabrikarbeiterinnen das geringste soziale Prestige hatten, so viel Gehör fanden, war ein sensationeller Erfolg. In ganz London war bald vom »matchgirls' strike« die Rede.

Am 16. Juli 1888, nach mehr als zwei Wochen Streik, kam es zu einem Treffen mit der Firmenleitung. Bryant & May gaben nach: Es wurden die Lohnstrafen abgeschafft, ein eigener Pausenraum wurde eingerichtet. Damit waren die Frauen nicht mehr gezwungen, in der Fabrikhalle mit den Phosphordämpfen zu essen. Außerdem erlaubte man ihnen, eine eigene Gewerkschaft zu gründen. Die Union of Women Matchworkers wurde am 27. Juli 1888 ins Leben gerufen. Es war die größte Frauengewerkschaft im Land. Sarah Chapman, ein Mitglied des Streikkomitees, vertrat die Gewerkschaft. Annie Besant übernahm eine Leitungsfunktion.

Damit endete ein außergewöhnlicher Streik, der viele Jahrzehnte nur als Fußnote der Gewerkschaftsgeschichte überliefert wurde. Dass es hier zumeist jungen Frauen ohne Ausbildung und mit geringem Sozialprestige gelang, gegen einen scheinbar übermächtigen Arbeitgeber ihre extrem schlechten Arbeitsbedingungen zu verbessern und sich gewerkschaftlich zu organisieren, wurde erst später gewürdigt. Zumal ihre eigene Sicht der Dinge leider alsbald in Vergessenheit geriet. Von keiner der Streikenden gibt es heute noch einen autobiografischen Text, der Einblick in die Ereignisse geben würde.

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