Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte über den letzten Mann, der alles wusste
»Nichts ist schöner, als alles zu wissen«, schrieb der Jesuit Athanasius Kircher im Vorwort eines seiner zahlreichen Werke – allesamt prächtige, mehrbändige Folianten, tausende Seiten stark, die in keiner Bibliothek von Rang fehlen durften. Kaum ein Gelehrter des 17. Jahrhunderts war zu Lebzeiten so berühmt. Kaiser und Päpste zählten zu seinen Lesern. Und doch – nach seinem Tod geriet Kircher bald in Vergessenheit. Heute wird er nicht mehr als großer Universalgelehrter gefeiert. Schlimmer noch: Es kam bald der Verdacht auf, er wäre nur ein Scharlatan gewesen. Oder hat er wirklich die Hieroglyphen entziffert, wie er behauptete?
Athanasius, was übersetzt »unsterblich« bedeutet, wurde 1602 in Geisa im heutigen Thüringen geboren. Seine Ausbildung erhielt er in der Fuldaer Jesuitenschule. Die »Gesellschaft Jesu«, die Ordensgemeinschaft der Jesuiten, war die katholische Antwort auf die Reformation. Finanziell bestens ausgestattet, trug sie Roms Kampf um die Köpfe und Herzen in die Fläche. Zahlreiche Ordenshäuser und Schulen wurden gegründet – in denen ein breites Wissen vermittelt wurde. So standen die Lehrer Kirchers auch der Erforschung der Natur offen gegenüber. Kircher jedoch interessierte sich zunächst für die Missionsarbeit, er wollte Jesuitenpater werden und die Welt bereisen. Daraus wurde aber nichts.
Stattdessen wurde er zum Sprachspezialisten, er lernte Latein, Griechisch, Hebräisch und das mit Jesu Muttersprache verwandte Syrisch. Und er begeisterte sich für die vielen neuen Texte, die während der Renaissance wiederentdeckt worden waren. Darunter zum Beispiel das »Corpus Hermeticum«, eine Sammlung von Schriften über Magie und Astrologie. Sie stammte aus der griechischen Antike, wurde aber als deutlich älter gedeutet. Kircher war davon überzeugt, dass der vermeintliche Urheber des Werks, ein Mann namens Hermes Trismegistos, in Wahrheit niemand anderer sei als der biblische Moses persönlich. Vom Namen des Verfassers dieser nur schwer verständlichen und kaum zugänglichen Weisheiten leitet sich unser heutiger Ausdruck »hermetisch« ab.
Speyer statt Palästina
Als 16-Jähriger war Kircher im Jahr 1618 in Paderborn in den Orden eingetreten. Im selben Jahr begann der Dreißigjährige Krieg. Drei Jahre später erreichten dessen Folgen auch den jungen Studenten: Im letzten Moment gelang ihm die Flucht vor dem protestantischen Heer Christians von Braunschweig, der im Winter 1621/22 seine 20 000 Söldner die Stadt plündern ließ.
Kirchers erste Flucht sollte nicht die letzte bleiben. Zunächst allerdings verdonnerte ihn der Heilige Stuhl zum Dableiben: Sein Gesuch, als Missionar ins Heilige Land beordert zu werden, wurde Ende der 1620er Jahre vom Papst in Rom abgelehnt. Statt nach Palästina sollte er nach Speyer gehen. In der dortigen Bibliothek machte er eine Entdeckung, die sein Leben veränderte. Ihm fiel eine Sammlung mit ägyptischen Hieroglyphen in die Hände. Ihre Entzifferung wurde ihm zu einer Lebensaufgabe.
Von Speyer ging Kircher nach Würzburg, wo er als jesuitischer Priester die Fächer Mathematik, Philosophie, Hebräisch und Syrisch unterrichtete. Es gelang ihm noch, das erste von mehr als 30 Werken zu veröffentlichen: ein Buch über Magnetismus, das in Gelehrtenkreisen bald die Runde machte. Dann musste er auch hier vor protestantischen Soldaten flüchten. Diesmal waren es Söldner unter dem Befehl des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf, die 1631 auf Würzburg vorrückten. Ein Ende des Kriegs war nicht in Sicht.
Kircher floh erst nach Mainz, dann nach Speyer und wurde schließlich nach Lyon beordert, wo er sich vor den Kriegshandlungen sicher wähnte. Dann aber brach dort die Pest aus, weshalb er weiter nach Avignon zog. Hier erreichte ihn der Ruf von Kaiser Ferdinand II., dessen Mathematiker und Hofastronom – der nicht minder berühmte Johannes Kepler – verstorben war. Um dessen Stelle einzunehmen, machte sich Kircher auf die lange Reise nach Wien, wo er jedoch niemals ankam.
Ein Sturm ließ das Schiff, auf dem er sich befand, nach Süden abdriften. Ein Unglück? Mitnichten. Er landete in Civitavecchia, einer Hafenstadt in der Nähe von Rom, die Ewige Stadt war plötzlich zum Greifen nah. Kircher ersuchte um Audienz beim Papst. Vor allem aber freute er sich auf die ägyptischen Obelisken, die in großer Zahl in Rom standen. Denn die Hieroglyphen, die ihn so sehr beschäftigten, die kannte er bislang nur aus Büchern.
Barocker Universalgelehrter
Kircher blieb schließlich in Rom, seine kaiserliche Berufung wurde zurückgenommen, und ein Freund lotste ihn an das Collegio Romano, die erste und bedeutendste Jesuitenschule. Dort unterrichtete er Mathematik. Jetzt begann Kirchers produktivste Zeit. Er beschäftigte sich mit so ziemlich allem, was Forscher damals umtrieb, mit Vulkanismus, Magnetismus, Optik oder Musiktheorie. Außerdem konstruierte er Sonnenuhren, Maschinen und Apparate, wie eine einfache Laterna magica, mit der man Bilder an die Wand werfen konnte.
Sein Wissen veröffentlichte er in Gestalt großformatiger Folianten mit tausenden Seiten. Es waren gigantische Enzyklopädien mit kunstvollen Illustrationen und Diagrammen. Das Hauptwerk aber brachte er im Jahr 1655 heraus: »Oedipus Aegyptiacus« enthielt ein sensationelles Versprechen. Nicht weniger behauptete Kircher darin, als dass ihm die Entzifferung der Hieroglyphen geglückt sei. Eine Leistung, die er für direkt vergleichbar hielt mit der Erfindung der Druckerpresse und der Entdeckung Amerikas. Denn die ägyptischen Schriften, so war Kircher überzeugt, enthielten uralte Weisheiten vom Ursprung der Religionen. Hieroglyphen waren der Schlüssel, den es brauchte, um diesen Schatz aufzuschließen.
Allerdings irrte sich Kircher gewaltig. Er übersetzte nicht nur Texte, die gar nicht ägyptisch waren, sondern aus römischer Zeit stammten und für ihn nur so aussahen wie ägyptische Hieroglyphen, sondern er machte auch einen fundamentalen Fehler: Er interpretierte die Zeichen als Bild- und nicht als Lautzeichen. So musste er zwangsläufig scheitern. Es sollte noch 150 Jahre dauern, bis es mit Hilfe des Rosetta-Steins gelang, das Rätsel der Hieroglyphen wirklich zu lösen.
Ein Schwamm und ein Gemisch aus Halbwahrheiten
Kircher war zu Lebzeiten noch wegen einer anderen Sache berühmt. Nachdem das Collegio Romano 1651 einen großen Schatz an Kunstwerken und Antiquitäten geschenkt bekam, kümmerte Kircher sich um die Sammlung und baute ein Museum auf: das Museum Kircherianum. Ein typisch barocker Ort. Eine Wunderkammer, wo er all seine Apparate ausstellte und Dinge, die ihm Jesuiten aus aller Welt zuschickten. Das Besondere am Museum Kircherianum war, dass es öffentlich zugänglich war und zugleich Kircher zu Forschungszwecken diente. Es gab dort alles Mögliche. Neben Skeletten, Skulpturen und Gemälden beispielsweise auch ein ausgestopftes Riesengürteltier. Oder einen Ziegelstein, der angeblich beim Turmbau zu Babel verwendet wurde, und außerdem den Schwanz und das Skelett einer Meerjungfrau – von der Existenz dieser Wesen war Kircher überzeugt.
Kirchers Herangehensweise ist typisch für die eklektische Gelehrsamkeit des Barocks. Er war ein Universalist, der alles Wissen seiner Zeit sammelte, auch das Magische und Okkulte, wie ein riesiger Schwamm. Daraus habe er dann ein Gemisch aus Halbwahrheiten produziert, schreibt der 1992 verstorbene Kircher-Experte John Edward Fletcher in seinem Buch »A Study of the Life and Works of Athanasius Kircher«. »Leichtgläubig« und »naiv« nennt er den Gelehrten, aber auch: »herkulisch« im Angesicht der Herausforderungen, denen er sich stellte.
Erst kurz nach Kirchers Tod etablierte sich das moderne Wissenschaftssystem mit seinem Streben nach Objektivität und experimenteller Überprüfung. Je weiter sich die modernen Wissenschaften in Disziplinen auffächerten, desto mehr kamen die Universalisten aus der Mode. Als Athanasius Kircher am 27. November 1680 in Rom verstarb, starb mit ihm vielleicht auch der letzte Mann, der alles wusste.
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