Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte über die Freibeuter des Kaisers
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Anfang Dezember 1916 schleicht ein britisches Handelsschiff durch die Passage zwischen Norwegen und den Shetlandinseln in den Nordatlantik, vorbei an den patrouillierenden Kriegsschiffen der Royal Navy. Nichts an diesem Frachter würde einem Beobachter auffallen, auch nicht die Männer an Bord, die in der typischen Wollkleidung der britischer Handelsmarine stecken. Es ist ein Frachter wie zahllose andere, die in diesen Tagen die britische Kriegswirtschaft am Laufen halten. Seit gut zweieinhalb Jahren führen die europäischen Mächte auf dem Kontinent Krieg.
Nur eines käme dem geschulten Auge vielleicht merkwürdig vor: Das Schiff liegt tief im Wasser. Zu tief für eine normale Beladung. Es ist das einzige verräterische Detail, das Kapitän Karl August Nerger und seine Männer nicht hatten kaschieren können.
Gut anderthalb Jahre zuvor hatte ein deutsches U-Boot den britischen Luxusliner »Lusitania« versenkt und mehr als 1900 Menschen in den Tod geschickt. Der internationale Aufschrei, der folgte, brachte die Kaiserliche Marine in eine Zwickmühle: U-Boote waren ihre einzige Möglichkeit, die Seeblockade und Nachschubwege der Alliierten zu stören. Aber weiter hemmungslos U-Boot-Krieg zu führen, hätte das Kaiserreich noch weiter in Verruf gebracht. Alternativen mussten her.
Eine davon dampfte nun nordwärts, um sich an der Seeblockade vorbei in den Atlantik zu schlängeln. Denn der so betont arglose britische Frachter ist in Wahrheit das deutsche Marineschiff »SMS Wolf«. Ihr Auftrag: im Indischen Ozean als getarnter Einzelgänger Jagd auf Schiffe der Alliierten machen. Freibeuterei heißt diese im Auftrag eines Staats betriebene Form von Piraterie.
Die Besatzung weiß, dass ihre Mission einem Selbstmordkommando verdächtig nahekommt. So genannte Hilfskreuzer wie die »Wolf« haben keine sonderlich hohe Lebenserwartung, im ungünstigsten Fall läuft ihr Kahn noch in der Shetland-Passage auf eine Seemine oder vor die Rohre eines Kriegsschiffs. Dass ihre Mission als eine der außergewöhnlichsten jener Zeit in die Geschichte eingehen wird, und wie nebenbei einen der bedeutendsten Antikriegsautoren des 20. Jahrhunderts hervorbringen wird, ahnen sie wohl kaum. Nur dass ihre Entbehrungen für den weiteren Fortgang des Kriegs eine bloße Fußnote sein würden, das schwant wohl bereits einigen an Bord. Dem verhinderten Schriftsteller Theodor Plievier vielleicht, den man vor die Wahl stellte, wegen einer Kneipenschlägerei in den Knast zu gehen oder bei der Kaiserlichen Marine Dienst zu tun. Auch sein Kapitän ist alles andere als ein Überflieger. Nerger gilt als besonnen, man bescheinigt ihm ein glückliches Händchen. Aber der Aufstieg in die höheren Ränge ist ihm durch eine nicht standesgemäße Vermählung versperrt. Es ist nicht die erste Garde, die an Bord der »Wolf« in See sticht.
Ein Schiff gespickt mit Geheimnissen
Dass sie so tief im Wasser liegt, hat einen einfachen Grund: Die »Wolf« war bis zum Äußersten mit Kohle beladen worden. Der umgerüstete Frachter durfte seine Maskerade nur im Moment des Angriffs fallen lassen. Zum Kohlebunkern unterwegs einen Hafen anzulaufen, das war ausgeschlossen, schreiben Richard Guilliatt und Peter Hohnen in »The Wolf«, dem Standardwerk zum Thema.
Die »Wolf« hatte aber noch mehr Geheimnisse unter Deck. Nerger hatte den 1913 gebauten Frachter »Wachtfels« umbauen lassen. Aus Frachträumen wurden Quartiere für die 345 Mann starke Besatzung, außerdem Lagerräume für Torpedos und Minen. Die eisernen Wände und Böden eines hinteren Laderaums wurden mit Verstrebungen versehen, um Hängematten, Bänke und Tische für mehrere hundert Gefangene aufzunehmen.
Deckwände wurden mit Brennschneidern herausgeschnitten und als herunterklappbare Türen wieder befestigt, so ließen sich Kanonen und Torpedorohre verbergen. Am Heck wurde auf der Steuerbordseite eine Luke eingebaut. Hier konnte die Besatzung eine der 465 Seeminen über Bord werfen. Die Silhouette des Schiffs ließ sich verändern, um ein Wiedererkennen zu erschweren. Außerdem ließ Nerger mehrere leistungsstarke Funkempfänger einbauen. Unterwegs würden sie zwar komplette Funkstille halten müssen, von abgehörten Funksprüchen erhofften sie sich aber Informationen über Routen und Standorte potenzieller Ziele. Sogar ein kleines zusammenlegbares Wasserflugzeug befand sich an Bord, »Wölfchen« sollte Schiffe aus der Luft aufklären.
Nicht der Kampf mit feindlichen Kriegsschiffen war Aufgabe der »Wolf«, sondern das Aufbringen von »Prisen« – Handels- oder Passagierschiffen, die beispielsweise durch einen Schuss vor den Bug gestoppt, gekapert, nach Bedarf ausgeräumt und dann zumeist versenkt wurden. Besatzung und etwaige Passagiere wurden als Gefangene unter Deck einquartiert. Freilassen konnte man sie nicht, denn sie hätten die Anwesenheit des Hilfskreuzers verraten.
Seeminen richten Zerstörung an – auch unter Zivilisten
So wäre das Geschäft des Hilfskreuzers ein weitgehend unblutiges gewesen, hätte die Admiralität nicht Kapitän Nerger auch mit dem Auslegen von Minen betraut. Schon damals galten die unter Wasser versteckten Sprengkörper als grauenhaft tückische Waffen. Sie unterschieden nicht zwischen Marineschiffen oder zivilen Fahrzeugen, nicht zwischen Freund oder Feind. Als die »SMS Wolf« längst vor Neuseeland Beute machte, schwamm ihre todbringende Fracht noch lange vor dem Kap der Guten Hoffnung, mit dem Zweck, die Nachschubwege zu stören.
Sechzehn Schiffe wurden durch die Seeminen der »Wolf« versenkt, zumeist Handelsschiffe mit kleinen Crews. Das änderte sich am 26. Mai, als die »Carlos de Ezaguirre«, ein spanisches Postschiff, auf dem Rückweg von Manila nach Barcelona, über eine solche Mine fuhr. Es war drei Uhr nachts und das Loch, das die Explosion ins Schiff gerissen hatte, war so groß, dass das Schiff Minuten später bereits auseinanderbrach. Über 130 Menschen verloren ihr Leben, darunter 58 Zivilisten und einige Kinder.
In ihrem eigentlichen Operationsgebiet im Indischen und Pazifischen Ozean kaperte die »SMS Wolf« inzwischen ein Schiff nach dem anderen – nicht zuletzt, weil die gegnerische Marine ihre Informationen über den deutschen Freibeuter geheim hielt. Tatsächlich lief es so gut, dass der Erfolg des Unternehmens sein eigenes Ende herbeiführte: Mit jedem neuen Gefangenen verschlechterte sich die Versorgungslage, Risse im sozialen Gefüge taten sich auf, auch unter der Besatzung.
Der zum Kohleschaufeln abgestellte Schriftsteller Plievier wird es einige Jahre später so ausdrücken: »So ein Offizier, der sein Gehalt einsteckt, eine Wohnung an Land hat und niemals etwas entbehrte, wenn ich so eine blaurasierte Fresse und das glatte Genick sehe ...« [...] »Zupacken und die Luft abdrücken, so ein Gefühl habe ich jedes Mal in den Fingern sitzen.« Das schreibt er in seinem Roman »Des Kaisers Kulis«, in dem er mit dem Leben in der Kaiserlichen Marine abrechnet.
13 Monate waren sie inzwischen auf See und hatten kaum je einen Fuß an Land gesetzt. Als die ersten Skorbutfälle auftraten, beschloss Nerger, dass es Zeit für die Rückkehr nach Deutschland war.
Jubel für die Freibeuter des Kaisers
Am 24. Februar 1918 lief die »Wolf« in Kiel ein und bekam einen triumphalen Empfang bereitet. 30 Schiffe versenkt oder beschädigt, die Flotten Großbritanniens, Frankreichs, Japans, Australiens und der USA ausgetrickst – was konnte man mehr erwarten? Kapitän Nerger erhielt die höchste militärische Auszeichnung, den Orden »Pour le Mérite«, die gesamte Besatzung bekam das Eiserne Kreuz. Bald wurde die geheime Mission im Licht der Öffentlichkeit seziert. Sieben Menschen, darunter Nerger selbst, schrieben über ihre Erlebnisse Bücher. Doch wie schon das Unternehmen selbst, blieben die meisten ihrer Werke ohne größere Folgewirkung.
Nur eines stach heraus: Das vorhin erwähnte Buch Plieviers, »Des Kaisers Kulis«, wurde zu einem der wichtigsten Bücher der pazifistischen Literatur jener Zeit und begründete Plieviers schriftstellerischen Ruhm. »Die Offiziere alleine sind es ja auch nicht«, schrieb er zornig weiter, »da sind die Kriegslieferanten, die Industrie: Stahl, Eisen, Leder! Egal was, alle verdienen sie, und alle haben ihre Dividenden erhöht. Dafür schuften wir! Dafür hungern wir! Dafür gehen wir kaputt!« Vielleicht war es ja die lange Zeit, die sie fernab der Heimat ohne Kontakt zur Außenwelt verbrachten, in der sich manche an Bord ihre eigene Meinung über den Sinn des Ganzen bildeten. Plievier jedenfalls blieb bei seiner pazifistischen Haltung. Sein später veröffentlichter Roman »Stalingrad« machte ihn schließlich zu einem der wichtigsten Antikriegsautoren des 20. Jahrhunderts.
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