Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte der ersten Frau, die eine Gewerkschaft führte
Mehrere Wochen Urlaub nehmen zu können, als »bezahlte Freizeit« zur Erholung, war für Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fabriken während der Industrialisierung völlig undenkbar. Die ersten, die in Deutschland einen bezahlten Urlaubsanspruch durchsetzen konnten, waren die Brauereiarbeiter. Sie konnten ihren Arbeitgebern im Jahr 1903 ganze drei Urlaubstage abringen.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.
Viel mehr Tage sind es in den folgenden Jahrzehnten auch nicht geworden. Zwar handelten jetzt zunehmend Gewerkschaften einen tariflich zugesicherten Urlaubsanspruch aus, aber auch während der Weimarer Republik blieb es bei maximal drei bis vier Urlaubstagen im Jahr. Eine, die gegen die harten Arbeitsbedingungen ihrer Zeit ankämpfte, war die Druckereimitarbeiterin Paula Thiede. Aus ihrem Leben vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden berichtet der Historiker Uwe Fuhrmann in seiner Biografie »Frau Berlin – Paula Thiede (1870-1919)«. Geboren 1870 als Pauline Berlin, wuchs sie im Berliner Zeitungsviertel auf, mit über 500 Betrieben eines der größten weltweit.
Dort machte sie den Job einer so genannten Anlegerin: Sie stand an einer Schnellpresse und musste die von einer Dampfmaschine angetriebene Druckmaschine mit Papier versorgen und im Rhythmus des Apparats das Papier einführen. Eine monotone Tätigkeit, die aber viel Aufmerksamkeit erforderte. Wurde der Bogen schief angelegt, musste das Papier entsorgt werden und wurde zu Makulatur. Schlimmer noch war es aber, den Bogen zu spät anzulegen. Dann musste die Maschine angehalten und gereinigt werden. Eine Ausbildung zur Buchdruckergehilfin blieb ihr als Frau verwehrt, aber immerhin hatte sie eine mehrmonatige Trainingsphase durchlaufen, weshalb sie mehr verdiente als die vielen ungelernten Arbeitskräfte.
Als Alleinerziehende mit zwei Kindern droht ihr die Obdachlosigkeit
Vorausgesetzt, sie konnte arbeiten. Unterstützung bei Notlagen gab es für sie nicht. Und so veränderte ein Schicksalsschlag ihr Leben dramatisch. Sie heiratete 1889 einen Schriftsetzer, bekam ihr erstes Kind und wurde bald darauf wieder schwanger. Doch kurz vor dessen Geburt starb ihr Ehemann, und sie stand nun alleinerziehend mit zwei Kindern ohne Einkommen da. Geld für die Miete war nicht vorhanden, und so wurde sie zu einer »Trockenwohnerin«: Besitzer neu gebauter Mietskasernen ließen Mittellose wie Paula Thiede mietfrei in ihren Gebäuden wohnen, weil der frische Kalkmörtel an den Wänden schneller aushärtete, wenn Personen in der Wohnung lebten. Nach rund drei Monaten waren die Häuser trocken genug für reguläre Mieter, und die Trockenwohner mussten sich mit ihrem wenigen Hab und Gut eine neue Bleibe suchen. Für das kostenlose Dach über dem Kopf nahmen sie in Kauf, dass die kalte, dauerfeuchte Behausung ihre Gesundheit angriff.
Paula Thiede erlebte den nächsten Schicksalsschlag: Ihr zweites Kind starb nur wenige Monate nach der Geburt. Und in dieser Situation wagte sie einen Neuanfang. Sie begann nun wieder als Anlegerin zu arbeiten, konnte ihre Tochter währenddessen zur Betreuung abgeben und setzte sich mit aller Kraft dafür ein, die Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeiterinnen und Arbeitern zu verbessern.
Ein erfolgloser Streik und ein Neuanfang
Das Gewerkschaftswesen war da bereits im Begriff, zu einer echten Massenbewegung zu werden. Streiks hatten sich im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr als wichtiges Werkzeug im Arbeitskampf erwiesen. Allen voran die Buchdrucker engagierten sich im Arbeitskampf, sie waren an einigen der größten Streiks im Kaiserreich beteiligt.
Im Jahr 1891 beispielsweise. Da legten 12 000 von ihnen die Arbeit nieder, um für den Neunstundentag zu kämpfen. Genutzt hat es am Ende nichts: Nach zehn Wochen mussten sie aufgeben, nachdem die Behörden die Unterstützungskassen beschlagnahmt hatten. Während dieses Streiks aber stieß Paula Thiede dazu. Sie wurde im gerade erst gegründeten Verein der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpressen aktiv, der sich für eine Verkürzung der Arbeitszeit und höhere Löhne für die Druckhilfsarbeiterinnen einsetzte. Und sie stieg schnell auf: 1892 wurde sie Vorstandsmitglied und 1894 dann Vorsitzende des Vereins.
Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden
Den nächsten Arbeitskampf 1896 erlebte sie jetzt als führende Funktionärin: Erneut kämpften die Druckhilfsarbeiterinnen für den Neunstundentag, der ihnen nach fast einem Monat Arbeitsniederlegung auch zugestanden wurde. Ein großer Erfolg für die Arbeiterinnen, der sie ermutigte, sich weiter zu vernetzen. Zwei Jahre später war es dann so weit: Der deutschlandweite und geschlechterübergreifende Verband der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -arbeiterinnen Deutschlands (kurz VBHi) wurde auf einem Kongress gegründet. Zur Vorsitzenden wurde einstimmig Paula Thiede gewählt, die sich jetzt daran machte, den Zentralverband weiter aufzubauen.
Es war der vorläufige Höhepunkt einer unglaublichen Karriere. Nur wenige Jahre vorher lebte sie mittellos und alleinerziehend als Trockenwohnerin. Jetzt war sie die weltweit erste Vorsitzende einer Gewerkschaft, in der Männer und Frauen organisiert waren. Ihren größten Erfolg erlebte sie im Jahr 1906: Unter ihrer Führung gelang es erstmals, einen überregionalen Tarifvertrag für die Hilfsarbeiterinnen und -arbeiter abzuschließen.
1917 wurde die Gewerkschaftspionierin schwer krank, blieb aber bis zu ihrem Tod Vorsitzende. Sie starb kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs im März 1919 in Berlin. Wer dort heute einen (sehr) kurzen Erinnerungsspaziergang machen möchte, kann dies am knapp hundert Meter langen Paula-Thiede-Ufer an der Spree tun. Auch ihr Grabmal auf dem bekannten »Sozialistenfriedhof«, dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde, kann besucht werden. Die Stätte hat die Nazizeit überlebt, im Unterschied zu der Gewerkschaft, deren erste Vorsitzende sie war: Sie wurde von den Nationalsozialisten am 2. Mai 1933 zerschlagen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben