Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte von Aliens und einer erfundenen Massenpanik
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STIMMEN: Er ist weg! Der Deckel ist ab! Achtung da vorne! Zurückbleiben!
REPORTER: Meine Damen und Herren, das ist das Schrecklichste, was ich je gesehen habe … Moment, da kriecht jemand aus dem Loch oben. Jemand oder etwas. Aus der schwarzen Öffnung schauen zwei leuchtende Scheiben heraus … sind das Augen? Es könnte ein Gesicht sein. Vielleicht ist es …
(STAUNENDE RUFE AUS DER MENGE)
REPORTER: Gütiger Himmel, etwas schlängelt sich aus dem Dunklen, wie eine graue Schlange. Da kommt noch eine, und da noch eine. Es sieht aus wie Tentakel. Da, ich kann den Körper des Dings sehen. Er ist groß, groß wie ein Bär, und er glänzt wie nasses Leder. Aber das Gesicht, es ist … Meine Damen und Herren, es ist unbeschreiblich.
Alles begann mit der Idee eines Mannes, den man Jahre später als einen von Hollywoods Topregisseuren feiern wird. Damals – mit gerade einmal 23 Jahren – war er noch nicht so weit, galt aber bereits als äußerst viel versprechendes Talent: Orson Welles, heute vor allem berühmt für seinen Filmklassiker »Citizen Kane«.
Seine Idee bestand darin, den Sciencefiction-Roman »Krieg der Welten« des britischen Autors H. G. Wells zu einem einstündigen Radiohörspiel umzuschreiben: Landeten im Original die feindlichen Marsianer noch in Großbritannien, sollten sie in seiner Version die US-Ostküste heimsuchen. Das Ganze lehnte er geschickt an das Format einer Nachrichtensendung an, inklusive mehrerer Zuschaltungen atemloser Reporter, die im Lauf einer Stunde vom Fortschritt der Invasion berichteten.
Aliens aus dem Radio
Ein raffiniertes Verwirrspiel im noch jungen Medium Radio. Fast noch verwirrender aber ist, was nach der Ausstrahlung am 30. Oktober 1938 passierte – und vor allem: was nicht.
Produziert wurde der »Krieg der Welten« im Rahmen des »Mercury Theater on Air«, einer Sendereihe von CBS, die sich auf die Hörfunkbearbeitung literarischer Werke spezialisiert hatte. Dabei durfte es durchaus anspruchsvoll zugehen, künstlerisch und technisch.
Als Orson Welles am nächsten Tag interviewt wurde, zeigte er sich etwas zerknirscht. Er bereue jegliches Missverständnis, das seine Produktion ausgelöst haben könnte.
Was war geschehen? Nun, Welles und sein Regiegenie hatten mit dem »Krieg der Welten« wohl etwas produziert, was so real wirkte, dass viele Hörerinnen und Hörer es für bare Münze nahmen. So begann das Hörspiel als harmlose Musiksendung, die immer wieder für Eilmeldungen unterbrochen wurde. Schließlich meldete sich ein Reporter aus dem kleinen Ort Grovers Mill im US-Bundesstaat New Jersey, wo er auf die eingangs geschilderte Weise die Landung feindlich gesinnter Marsmenschen beschrieb.
»Tausende durch Radio-Kriegsdrama entsetzt!«, titelte der »Boston Herald« am nächsten Tag. Das Wort von der Massenpanik machte die Runde.
Katastrophen-Kammerspiel
Wer allerdings von Anfang an zugehört hätte und durchgehend drangeblieben wäre, der hätte bemerkt, dass die Handlung doch recht rasant voranschritt. So zerstörten die gelandeten Marsmenschen innerhalb einer Stunde große Teile der US-Armee, unterbrachen die Kommunikation im gesamten Land, legten beinahe ganz New York City in Schutt und Asche und nahmen schließlich weite Landstriche der Vereinigten Staaten ein. Wer sogar bis zum Schluss zugehört hätte, dem wäre nicht entgangen, dass die Marsmenschen schließlich an Bakterien und Viren zu Grunde gingen.
Das Problem an der ganzen Sache war allerdings, dass ein nicht unerheblicher Teil der Hörerinnen und Hörer erst einige Zeit nach Beginn eingeschaltet hatte. Zeitgleich war nämlich auf NBC der berühmte Bauchredner Edgar Bergen zu hören gewesen, und in den Werbepausen zu diesem Programm hatten einige wohl auf CBS umgeschaltet. Nun vernahmen sie plötzlich Furcht erregende Augenzeugenberichte über eine angebliche Invasion vom Mars.
Da kann man schon mal in Panik geraten. Aber gleich in eine Massenpanik? In der Tat scheint eine Studie, die zwei Jahre später angefertigt wurde, genau das zu belegen. »The invasion from Mars: A Study in the Psychology of Panic« war von Hadley Cantril, einem Psychologen der Princeton University, durchgeführt worden.
»Schon lange bevor die Übertragung zu Ende war, beteten Menschen in den gesamten Vereinigten Staaten, weinten und flohen verzweifelt, um dem Tod durch die Marsbewohner zu entkommen«, heißt es darin.
Solche und ähnliche Aussagen zementierten in den folgenden Jahrzehnten das Narrativ der Massenpanik, ausgelöst durch ein simples, wenn auch geschickt gemachtes Radiohörspiel. Immer wieder sollte diese Studie herangezogen werden, wenn es darum ging, den Einfluss der Massenmedien zu illustrieren.
Nur, mit manchen Massenpaniken ist es wie mit manchen Alien-Invasionen: Sie finden in der Form höchstens in der Fantasie der Leute statt.
Wie der Autor W. Joseph Campbell in seinem Text »Fright beyond Measure? The Myth of The War of the Worlds« im Jahr 2010 ausführte, untermauerten die nackten Zahlen viele der Behauptungen der Studie nicht.
Cantril bezog seine Daten im Wesentlichen von öffentlichen Umfragen und Interviews. Da wurde zwar erzählt, wie sich einige Menschen nach dem Hörgenuss in Kirchen flüchteten oder sich vor ihren Häusern versammelten. Diese Anekdoten hatte Cantril dann einfach auf den Rest der USA hochgerechnet und entsprechend interpretiert.
So behauptete er in seiner Studie, dass ein Großteil der Hörer und Hörerinnen durch die Radioshow völlig verängstigt war; ihre Zahl schätzte er auf ungefähr 1,2 Millionen. Bei einer – belegten – Gesamthörerschaft von mehr als sechs Millionen wäre dies bei Weitem nicht »der Großteil« gewesen, und das gilt nur in dem Fall, dass man Cantrils Schätzung nicht ohnehin schon als Übertreibung ablehnt.
Wer genauer hinsah, erkannte auch in den sensationsheischenden Überschriften der Zeitungen Ungereimtheiten. So wurde in einem Artikel der »New York Times« zwar von »Wellen einer Massenhysterie« geschrieben. Die Basis für jenen Artikel war allerdings allein der Umstand, dass in einem Häuserblock New Jerseys, des Orts der fiktiven Landung, Familien panikartig ihre Wohnungen verlassen hatten. Eindeutig eine Reaktion auf das Gehörte, aber noch einige zehntausend Menschen von einer echten Massenpanik entfernt.
Abseits der großen Städte waren die Meldungen in Zeitungen sogar noch rarer gesät. Zwar war hier ebenfalls die Rede von tausenden Flüchtenden, Belege gab es dafür jedoch keine.
Ein Doppel-und-Dreifach-Fake
Warum so viel Aufhebens um eine einfache Radioshow? Die Erklärung dafür findet sich vor allem in den Meinungsstücken, die die Printmedien in den folgenden Wochen veröffentlichten.
Von etwaigen Folgen der angeblichen Massenpanik wurde nichts mehr geschrieben, stattdessen meldeten sich nun die Technologiekritiker zu Wort. Denn das Medium Radio an sich war zu jener Zeit ja noch ein Novum: ein neues Massenmedium, dem vor allem die alteingesessenen Verlagshäuser mehr als kritisch gegenüberstanden.
Noch bis in die 1930er Jahre hatten sie mit ihren Zeitungen das Monopol darauf, den Menschen die neuesten Nachrichten zu vermitteln. Gegen Ende des Jahrzehnts war mit einem Mal das Radio drauf und dran, ihnen diese Rolle streitig zu machen. Es ist also nicht verwunderlich, dass viele Verlage diese unter anderen Umständen wohl kaum erwähnenswerte Geschichte um ein Hörspiel zum Anlass nahmen, scharf gegen das neue Medium anzuschreiben.
So war im Branchenmagazin »Editor and Publisher« zum Beispiel jener Satz zu lesen: »Die Nation als Ganzes ist weiterhin der Gefahr unvollständiger, missverstandener Nachrichten über ein Medium ausgesetzt, das noch nicht einmal sich selbst gegenüber beweisen konnte, dass es seinem Informationsauftrag gewachsen ist.«
Die »New York Times« legte mit einem Kommentar nach, den sie mit »Terror by Radio« betitelte und in dem es heißt: Das Radio »tut vieles, was Zeitungen schon vor langer Zeit zu vermeiden gelernt haben, zum Beispiel Nachrichten und Werbung zu vermischen«.
Welles legt nach
Die Aufregung ebbte nach der ersten Woche recht bald ab, und wäre da nicht Cantril gewesen, der all die Schreckensmeldungen in eine akademische Studie verpackt hatte, dann wäre diese Radiosendung eine Fußnote in der Biografie Orson Welles' geblieben.
Ein Umstand, dessen sich der Regisseur selbst wohl im Lauf seiner Karriere durchaus bewusst geworden war. Jahre später vereinnahmte er den Mythos der Massenpanik für selbstdarstellerische Zwecke und kommentierte die Auswirkungen seines Werks auf gewohnt exaltierte Weise: »Die Häuser leerten sich, die Kirchen liefen voll; und von Nashville bis nach Minneapolis heulten die Menschen in den Straßen und zerrissen ihre Kleider.«
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