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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte, wie aus »ekelhaften Fressern« Feinschmecker wurden

Im 19. Jahrhundert war Essengehen in Amerika keine Gaumenfreude, klagte damals die Prominenz. Doch dann erfanden zwei Schweizer dort die Haute Cuisine, wie unsere Kolumnisten erzählen.
Ein Cowboy isst Bohnen.
Ein Cowboy isst Bohnen. Obgleich über den Geschmack des schlichten Gerichts in diesem Bild nichts überliefert ist – die amerikanische Küche hatte lange Zeit keinen guten Ruf.

Charles Dickens, einer der wohl berühmtesten und beliebtesten Schriftsteller des viktorianischen Englands, besuchte in den 1840er Jahren zum ersten Mal die neue Welt. Anfangs war er begeistert, denn auch dort wurde er wegen seiner Romane wie »Oliver Twist« oder »Große Erwartungen« gefeiert. Doch schon bald, so schrieb er es später in seinen Büchern über die USA, stießen ihm einige Dinge übel auf. Eines davon: die fehlende Esskultur. Gewohnt, in den feinsten Restaurants London zu speisen, mokierte er sich über die »Haufen unverdaulicher Masse«, die die Menschen in Amerika zu sich nehmen würden.

Dickens (1812–1870) war mit dieser Einschätzung nicht allein. Amerikaner, die in den Genuss europäischer Küche kamen, ging es ähnlich. Zum Beispiel James Fenimore Cooper (1789–1851), Verfasser der berühmtesten Abenteuerromane seiner Zeit und einige Jahre Konsul in Lyon, vermerkte nach seiner Rückkehr in die Heimat, dass die Amerikaner die »ekelhaftesten Fresser aller jemals bekannten zivilisierten Nationen« seien.

Der kanadische Historiker Harvey Levenstein von der McMaster University, der sich viel mit der Entwicklung der US-Küche beschäftigt hat, legt noch einen drauf: Die doch sehr fleischlastige Küche, schreibt er, habe in den ersten vier oder fünf Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Verstopfung zum nationalen Fluch in Amerika gemacht.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Aber nicht nur was, sondern auch wie gegessen wurde, war zu jener Zeit noch weit von europäischen Gepflogenheiten entfernt. Während Jahrzehnte zuvor im Fahrwasser der Französischen Revolution auch ein gastronomischer Umschwung folgte, war es Anfang des 19. Jahrhunderts in den USA nicht mal möglich, herkömmliche Gerichte in einem halbwegs passablen Ambiente zu sich zu nehmen. Restaurants waren noch Zukunftsmusik.

Was Charles Dickens damals allerdings noch nicht wusste: Ein Brüderpaar aus der italienischen Schweiz war im Begriff, all das zu ändern.

Wie zwei Brüder die US-Gastronomie retteten

Es begann mit Giovanni Del-Monico, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine recht steile Karriere als Händler zu See machte. Rasch arbeitete er sich vom einfachen Seemann zum Kapitän hoch, und wie so viele vor und nach ihm, erkannte er die Möglichkeiten, die ihm ein Land wie die USA boten. Er beschloss, gemeinsam mit seinem Bruder Pietro, einem Konditor im schweizerischen Bern, sein Glück in New York City zu versuchen. Ihre Idee: Giovanni kannte sich mit Wein aus, Pietro mit Gebäck – zusammen würden sie die Gastronomie der neuen Welt erobern.

Und so eröffneten sie im Jahr 1827 in der William Street nahe »The Battery«, einem der ältesten Parks Manhattans, ein kleines Geschäft. Weil auf das Schild ihr Name versehentlich »Delmonico's« geschrieben wurde, beschlossen die beiden gemäß einer Familienlegende, einfach gleich ihren Nachnamen zu ändern. Wahrscheinlich um etwaigen Ressentiments gegen Einwanderer entgegenzuwirken, amerikanisierten sie auch ihre Vornamen auf John und Peter.

Im Angebot hatten sie flaschenweise Wein und Gebäck – und schnell avancierte das kleine Geschäft zu einem Lieblingsort vieler und all jener, die die europäische Küche vermissten. Zum Erfolg trug bei, dass der Laden stets außergewöhnlich sauber war, die Zutaten überdies immer frisch und von höchster Qualität.

Der Erfolg zahlte sich aus, und so eröffneten sie im Jahr 1837 schließlich eine Lokalität, die tatsächlich als Restaurant bezeichnet werden konnte. Die Quellen sind sich wie so oft nicht ganz einig, aber es ist gut möglich, dass dieses »Delmonico's« das erste Restaurant überhaupt in den USA war.

»Delmonico's« | Das Foto zeigt das berühmte Restaurant an der Fifth Avenue und 44th Street in New York City im Jahr 1903.

Das Restaurant ähnelte jenen Etablissements in Frankreich, die zuerst diese Bezeichnung erhalten hatten. Auch die angebotene Küche war französisch. Und weil die Delmonicos gut zahlten, lockten sie bald die besten französischen Köche nach Manhattan.

Das dreigeschossige Gebäude – unter den Angestellten als »The Citadel« bezeichnet – verfügte nicht nur über edle Parkettböden und private Bereiche für den ungestörten Genuss, sondern auch über einen Weinkeller, der Platz für 16 000 Flaschen bot. Fortan kredenzten die Brüder dort das beste Essen der Stadt, wahrscheinlich sogar der gesamten USA.

Berühmte Gäste, berühmte Köche

So richtig bekannt wurde das Lokal allerdings erst ab den 1840er Jahren. Lorenzo Delmonico, der Neffe der beiden Brüder, übernahm allmählich die Leitung des Lokals und erwies sich als einer der talentiertesten Restaurateure seiner Zeit.

In »The Citadel« ging bald alles ein und aus, was Rang und Namen hatte. Dann, im Jahr 1862, gelang Lorenzo Delmonico ein Coup, der nicht nur das Restaurant, sondern auch die gastronomische Landschaft der USA nachhaltig verändern sollte. Er schaffte es, den französischen Koch Charles Ranhofer (1836–1899) an Bord zu holen. Der mit großem weißem Schnurrbart und beeindruckender Statur ausgestattete Ranhofer übernahm die Küche des »Delmonico's« und hinterließ bleibenden Eindruck bei den Gästen.

Während des seit 1861 tobenden Amerikanischen Bürgerkriegs wurde ein Bankett zu Ehren Russlands abgehalten – das Land hatte die Union von Anfang an unterstützt. Es muss eines der beeindruckendsten Gelage gewesen sein, die Manhattan bis dahin gesehen hatte. Allein die ersten vier Gänge umfassten 31 Gerichte, es folgten 21 Desserts und 14 »pièces montées«, also Skulpturen und Tableaux aus Zucker.

Nach dem Ende des Bürgerkriegs erlebte das »Delmonico's« seinen absoluten Höhepunkt. Es wurden zehn neue Standorte eröffnet, allerdings waren zu allen Zeiten nie mehr als vier Restaurants gleichzeitig aktiv. Das sollte die einwandfreie Qualität und den Service garantieren. Das wiederum spülte Geld und viele bekannte Gesichter in die Restaurants. Beinahe alle US-Präsidenten jener Zeit, ferner Mark Twain, Napoleon III. und Nikola Tesla sollen im »Delmonico's« gespeist haben. Schließlich, im Jahr 1868, besuchte der eingangs erwähnte Charles Dickens das Lokal.

Nachdem eigens für ihn ein Bankett ausgerichtet worden war, das Dickens an die besten Restaurants Europas erinnerte, ließ er in einer Rede verlauten, dass sich seine Meinung über die USA nun komplett geändert habe. Er ging sogar so weit zu sagen, dass sein Lob fortan in jede seiner früheren Publikationen als Anmerkung eingefügt werden müsse. Die Adelung Amerikas war wohl in erster Linie auf das »Delmonico's« und seinen Einfluss auf die neue Esskultur – zumindest für jene, die es sich leisten konnten – zurückzuführen.

Die Prohibition brachte das Ende

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sollte das »Delmonico's« der Inbegriff des »fine dining«, der besten französischen Küche außerhalb Frankreichs, bleiben. Erst die Einführung der so genannten Lobster Palaces, großer und prunkvoll, aber geschmacklos eingerichteter Partyrestaurants, gruben dem »Delmonico's« langsam die Kundschaft ab. So gut der Service und die Qualität der Speisen auch war, das etwas zu seriöse Gehabe entsprach nun nicht mehr dem Zeitgeist.

Erschwerend kam Anfang des 20. Jahrhunderts hinzu, dass die Qualität des Managements nachließ. Als im Jahr 1904 zum ersten Mal kein Familienmitglied das Restaurant führte, fing sich die Familie an zu streiten, wie das Lokal ausgerichtet werden sollte. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, der die Menschen sparsamer werden ließ, häuften sich die finanziellen Probleme. Ein Weinkeller, gefüllt mit 16 000 Flaschen, war ein kostspieliges Unterfangen.

Den Todesstoß gab dem »Delmonico's« schließlich die Prohibition. Just am 17. Januar 1920, jenem Tag, an dem das Alkoholverbot in Kraft trat, verkaufte die Familie den letzten Standort in der 44th Street. Sie hatte wohl schon geahnt, dass man französische Küche nicht lange ohne Weinbegleitung anbieten konnte.

Und so, wie Paul Freedman in seinem Buch »Ten Restaurants That Changed America« erklärt, wurde am 21. Mai 1923 im »Delmonico's« die letzte Mahlzeit serviert. Angeblich gab's zum Essen Mineralwasser.

Obwohl das ursprüngliche Restaurant aufhörte zu existieren, wurde es im Lauf des 20. Jahrhunderts immer wieder neu eröffnet. Es war dann vor allem für seine Steaks beliebt. Die französische Küche, die jahrzehntelang serviert wurde, lässt sich aber glücklicherweise heute noch nachkochen. Denn Charles Ranhofer, der bis in die 1890er Jahre die Küche leitete, veröffentlichte 1894 »The Epicurean«, ein enzyklopädisches Kochbuch, das neben 3000 Rezepten auch Menüvorschläge und eine Weinlehre enthält. Und darin findet sich eines der berühmtesten Gerichte, das angeblich 1860 für ein Stammkundin des »Delmonico's«, Mrs. LeGrand Benedict, erfunden wurde: Eggs Benedict.

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