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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte einer blitzblanken Industriespionage

Frankreich liebte seine Spiegelsäle, Venedig sein Spiegelmonopol. Das hatte keine Zukunft. Unsere Kolumnisten über einen dreisten Ideenklau, zwei Tote und ein glänzendes Ergebnis.
Finanzminister Jean-Baptiste Colbert stellt Ludwig XIV. die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften vor. Gemälde von Henri Testelin (1616-1695)
Jean-Baptiste Colbert (in Blau) vor König Ludwig XIV. Für seinen König heckte der umtriebige Finanzminister einen Plan aus, wie auch Frankreich Gläser höchster Güte herstellen könnte.

Im Januar des Jahres 1667 werden im Pariser Vorort Faubourg Saint-Antoine zwei Handwerker tot aufgefunden. Schauplatz des Verbrechens: die Rue de Reuilly, seit nunmehr sechs Jahren Standort eines königlichen Prestigeprojekts, dem viele kaum noch Chancen auf Erfolg einräumen. Der Anschlag auf die beiden ist nur die jüngste Eskalation eines Konflikts, der außer Kontrolle zu geraten droht. Oder ist es am Ende gar kein Mord? Erlagen die zwei Venezianer, ein Metallpolierer und ein Glasbläser, vielleicht einfach einer Krankheit? In ihrer Sterbeurkunde ist ein natürlicher Tod verzeichnet.

Wie so viele historische Kriminalfälle wird sich auch dieser wohl nie restlos klären lassen. Sicher ist: Weder die französischen Behörden noch die mutmaßlichen Mörder aus Venedig hatten ein Interesse daran, den Fall an die große Glocke zu hängen. Verdeckte staatliche Operationen regelte man auch im Reich des Sonnenkönigs am liebsten im Dunklen.

Alles drehte sich um das klassische Symbol der Eitelkeit und nunmehr eines der liebsten Statussymbole des europäischen Adels: den Spiegel. Nicht erst seit Beginn des 17. Jahrhunderts, aber vor allem da, begannen die, die es sich leisten konnten, ihre Paläste mit großzügigen Spiegelsälen auszuschmücken. Der sündhaft teure Wandschmuck vervielfältigte den Prunk des Gastgebers ebenso wie sein Ansehen. Besonders Frankreich tat sich hervor. Als im Jahr 1651 der Erzbischof von Sens ein Fest veranstaltete, war der Saal mit mehr als 50 Spiegeln ausgekleidet. Minister im Kabinett Ludwigs XIV. protzten mit Spiegeln, deren Rahmen aus Gold, Silber, Elfenbein oder sogar aus Schildkrötenpanzern bestanden. Das war nicht eben günstig und sollte es auch gar nicht sein: Wie Aufzeichnungen aus dem 16. Jahrhundert zeigen, konnte ein guter venezianischer Spiegel schnell doppelt so teuer sein wie ein Gemälde des Renaissancekünstlers Raffael.

Womit wir schon beim Kern der Geschichte wären, denn die klarsten und reinsten Gläser, und damit auch die besten Spiegel, kamen aus Venedig. Genauer, von einer vorgelagerten Insel mitten in der Lagune: Murano.

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Wann genau Murano diesen Ruf bekam, ist nicht ganz sicher. Es ist nicht mal ganz sicher, woher das Knowhow zur Glasherstellung überhaupt kam. Die Handelsbeziehungen Venedigs hatten vermutlich Wissen um die Glas- und Spiegelproduktion aus dem arabischen Raum, vielleicht aber auch aus nördlicheren Gefilden dorthin gebracht. So war zum Beispiel schon über Jahrhunderte in der Gegend um Nürnberg, aber auch in Lothringen qualitativ sehr hochwertiges Glas produziert worden.

Fest steht: Als im 13. Jahrhundert die Glasbläsergilde gegründet wurde, ging es alsbald steil bergauf. Der Umzug auf die Insel Murano beseitigte die Brandgefahr, die von den Öfen für die Stadt ausging. Ob es nun wirklich der Kunstfertigkeit der dortigen Glasbläser geschuldet war oder doch eher einem geschickten Marketing, jedenfalls galt schon im 15. Jahrhundert das Muranoglas als das beste seiner Art. Vor allem ab dem 16. Jahrhundert setzten die Venezianer konsequent auf Export und dominierten schließlich den europäischen Markt. Ohne Scheu machten sie von ihrer Machtstellung Gebrauch: Wer sich seine Residenzen mit venezianischen Spiegeln auskleiden wollte, sollte eben auch einen fürstlichen Preis zahlen.

Alle für eine, eine für alles: Eine zentrale Manufaktur soll es richten

In Paris sann man auf Abhilfe. König Ludwig betraute seinen Finanzminister Jean-Baptiste Colbert mit der Aufgabe, ein französisches Gegengewicht zur venezianischen Glasindustrie zu schaffen. Nichts Geringeres sollte erreicht werden, als das Monopol der Lagunenstadt zu brechen.

Im Jahr 1662 beschloss Colbert, alle staatlichen Subventionen, die bislang in kleinere Glas- und Spiegelhersteller des Reichs geflossen waren, einzustellen. Stattdessen wollte man alle verfügbaren Kräfte in einer zentralen Manufaktur bündeln, ganz nach dem Vorbild der königlichen Möbelmanufaktur. Das Management der »Manufacture royale de glaces de miroirs« wurde in die Hände des Finanziers Nicolas du Noyer gelegt, und mit Hilfe der Verbindungen Colberts sollten nun Experten und Arbeiter für die Manufaktur gefunden werden.

Der Plan war so klar wie Muranoglas: Facharbeiter aus der Lagunenstadt mussten her. Man musste sie abwerben, gemeinsam mit französischen Arbeitern ihre Arbeit verrichten lassen, im Zuge dessen hervorragende Spiegel produzieren und gleichzeitig die französische Arbeiterschaft ausbilden. Nachdem du Noyer in der eingangs erwähnten Rue de Reuilly einen geeigneten Ort für die Manufaktur gefunden hatte, begann nun auch Colbert seinen Teil des Plans in die Tat umzusetzen. Fachkräfte herbeizulocken, erwies sich jedoch schwieriger als gedacht.

Venedig war sich des Werts seiner gut ausgebildeten Glasbläser wohl bewusst. Um das Monopol nicht zu gefährden, wurden sie mit allerlei Privilegien ausgestattet. Zum Beispiel durften sie, als einzige Mitglieder des einfachen Volkes, in adlige Familien einheiraten. Außerdem erhielten sie große Steuererleichterungen, manchmal waren sie beinahe komplett von Steuern befreit. Gleichzeitig legte man den Fachkräften enge Fesseln an: Auswandern war verboten; wer es trotzdem tat, wurde als Landesverräter verurteilt. Als Höchststrafe drohte, in letzter Konsequenz, die Ermordung durch von Venedig gedungene Agenten. Murano war abgeschottet und ausländischen Besuchern nicht zugänglich.

Die Aktion Abwerbung musste folglich über Bande gespielt werden. Colbert instruierte den französischen Botschafter, der wiederum einen venezianischen Schrotthändler auftat, der im Auftrag von Paris unauffällig über die Insel strich. Und er hatte Erfolg. Drei Meister – Petro Rigo, Zuande Dandolo und ein Mann, der nur als La Motta bekannt war – fanden sich bereit, auf die Avancen Frankreichs einzugehen.

Venedig bekommt Wind von der Sache

Es blieben nicht die einzigen. Im Herbst 1665 hatte Colbert genügend Mitarbeiter zusammen, um die Manufaktur zu eröffnen, schreibt Sabine Melchior-Bonnet in ihrer Kulturgeschichte des Spiegels.

Venedig hatte davon natürlich Wind bekommen und war nicht bereit, diesen Fall barocker Industriespionage durchgehen zu lassen. Es begann ein jahrelanges Katz-und-Maus-Spiel zwischen Venedig und Paris. Zuerst wurde der venezianische Botschafter Sagredo damit beauftragt, die Abtrünnigen mit großzügigen Versprechungen zurückzulocken. Sagredo scheiterte. Nun wurde ein gewisser Giustiniani aktiv.

Der intensivierte die Anstrengungen und scheute dabei auch vor kreativen Methoden nicht zurück. Briefe, die die Arbeiter an ihre Frauen schickten, um sie nach Paris zu holen, wurden abgefangen, fingierte Antwortbriefe zurückgeschickt, um die Männer dazu zu bewegen, nach Venedig zurückzukehren.

Eigene Herstellung | Der wahrscheinlich berühmteste Spiegelsaal der Welt befindet sich im Versailler Schloss. Hatte Frankreich es geschafft, Spiegel dieser Zahl und Größe in einheimischer Produktion zu fertigen?

Doch auch in der Manufaktur verlief nicht alles nach Plan. Die horrenden Summen, die für die Männer, ihre Unterkünfte und Vergnügungen ausgegeben wurde, schlugen sich bald in den Bilanzen des Unternehmens nieder. Im November 1666 beziffert Finanzier du Noyer in einer Nachricht an Colbert die bisherigen Ausgaben auf 180 000 Livre; das war weit mehr als die 30 000 Livre, die das Unternehmen an Aktiva vorzuweisen hatte.

Hinzu kam, dass einige der venezianischen Arbeiter dem Druck kaum noch standhielten. Die Verlockungen, Drohungen und absichtlich gestreuten Gerüchte, die nun schon seit vielen Monaten von Venedig ausgingen, sorgten, wie beabsichtigt, für Unruhe unter den venezianischen Arbeitern in Paris. So sehr, dass die Belegschaft der Manufaktur gegen Ende des Jahres 1666 ihre Streitereien mit Waffen auszutragen begann. Nur noch der königlichen Garde gelang es, wieder für Ordnung zu sorgen. Mehrere Arbeiter waren verletzt worden, andere landeten für einige Tage im Gefängnis.

Dann die beiden Todesfälle. Sofort ging das Gerücht um, Venedig habe die Finger im Spiel. Gift oder natürlicher Tod? Es machte am Ende wenig Unterschied, die Arbeit Giustinianis hatte Früchte getragen: Drei der Meister verließen Paris wieder in Richtung Murano. Die Manufacture royale begann zu wackeln. Bald quittierten mehrere französische Arbeiter den Dienst, aus Frust über die Venezianer, die sich in der Mehrzahl geweigert hatten, ihr Wissen mit ihnen zu teilen.

Ein (Spiegel-)Kabinettstückchen gelingt

Colbert ließ sich nicht beirren. Und der Erfolg gab ihm Recht. Ab 1670 kamen Spiegel auf den Markt, die nicht nur in ihrer Qualität, sondern auch was die Größe anging, mit denen Venedigs mithalten konnten. Als der wohl berühmteste aller Spiegelsäle im Jahr 1682 in Versailles eröffnet wurde, kamen die dafür produzierten Spiegel bereits aus der ersehnten einheimischen Fabrikation. Die Vormachtstellung Venedigs war endgültig gebrochen.

Ein Jahr später starb Colbert. Die von ihm gegründete Firma aber wuchs weiter und beanspruchte bald selbst eine gesamteuropäische Monopolstellung. 1692 zog sie in ein Dörfchen in der Picardie um, das ihr seinen Namen gab. Die »Compagnie de Saint-Gobain«, ein börsennotierter Industriegigant, gilt heute als eines der ältesten und angesehensten Unternehmen Frankreichs. Und produziert bis heute Gläser.

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