Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte über die Entdeckung der Massenaussterben
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Am 1. September 1914 starb Martha im Zoo von Cincinnati. Sie war die letzte lebende Wandertaube. Wenige Jahrzehnte zuvor war die Spezies noch die häufigste Vogelart Nordamerikas, auch weltweit diejenige mit den meisten Individuen. Menschen haben, wie im Fall von Martha, das Aussterben vieler Arten beobachtet. Beim Dodo, dem flugunfähigen Vogel auf Mauritius, ist seine Ausrottung sogar sprichwörtlich geworden: »Dead as a dodo.« Zahlreiche Arten sind allerdings ausgestorben, lange bevor Menschen auf der Welt umherliefen – eigentlich sogar der allergrößte Teil aller Spezies, die jemals die Erde bevölkert haben: Im Lauf der Erdgeschichte gab es schätzungsweise vier Milliarden Pflanzen- und Tierarten. Davon sind 99 Prozent verschwunden. Viele von ihnen haben jedoch Spuren hinterlassen.
In einer Zeit, bevor Charles Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlichte, Geologie und Paläontologie noch keine wissenschaftlichen Disziplinen waren, gab es auch noch keine realistische Vorstellung vom Alter der Erde. Um 1600 legte der irische Erzbischof James Ussher in seiner Abhandlung »Annales Veteris Testamenti« den 23. Oktober 4004 v. Chr. als Datum für den Schöpfungsakt fest. Die gängige christlich geprägte Vorstellung lautete, dass Gott sämtliche Arten auf der Welt geschaffen hat – und seither haben sich diese nicht mehr verändert. Warum sollte eine Art auch aussterben? Die Welt, so die Lehrmeinung der Kirche, sah noch genauso aus, wie Gott sie geschaffen hatte.
Nur, wie ließen sich die vielen versteinerten Knochen erklären, die überall auf der Erde auftauchten? Manche waren riesig und passten zu keinem bekannten Tier. Und selbst wenn diese Knochen Überreste von Lebewesen gewesen sein sollten, wie kamen die versteinerten Gebeine mitten ins Gestein?
Der englische Naturforscher Robert Plot lieferte um 1670 eine Erklärung. Er ging davon aus, dass kleinere Fossilien zufällige Formen von mineralischen Kristallen seien, eine Art Verzierung im Inneren der Erde. Von Plot stammt übrigens die erste bekannte Abbildung eines Dinosaurierknochens – allerdings entstand diese eher zufällig. Plot hielt den Oberschenkel eines Megalosaurus für den Knochen eines menschlichen Riesen.
Wie ein Hobby eine Wissenschaft befeuerte
Es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis sich das Bild, das sich die Menschen von der Erde machten, radikal änderte. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde das Sammeln von Fossilien zu einem regelrechten Trend. Es war die Freizeitbeschäftigung der bürgerlichen Gesellschaft. So kamen immer mehr Überreste von ausgestorbenen Tieren zum Vorschein.
Als die berühmte Fossiliensammlerin Mary Anning (1799–1847) an der südenglischen Küste von Dorset ein fast vollständiges Skelett eines Ichthyosaurus fand, hatte niemand eine Erklärung für diese Entdeckung. Es sah aus wie ein Fisch, hatte aber Zähne wie ein Krokodil. War es ein Reptil, ein Vogel oder doch ein Fisch? Als Anning kurze Zeit später ein weiteres Skelett fand, wurden die Fragen nicht weniger. Die Überreste stammten offenbar von einem 15 Meter langen Tier, das aussah wie eine Mischung aus einer Schlange und einer Schildkröte.
Der Meeressaurier bekam den Namen Plesiosaurus, doch den bekanntesten Paläontologen der Zeit, Georges Cuvier (1769–1832), überzeugte das nicht. Er hielt das Skelett für eine Fälschung. Ein Tier mit mehr als 30 Halswirbeln überstieg seine Vorstellungskraft. Aber langsam wurde den Naturforschern klar, dass es offensichtlich einmal Tierarten gegeben hatte, die gegenwärtig nicht mehr existierten. Die vielen Fossilien ließen sich schlicht nicht anders erklären.
Der entscheidende Durchbruch gelang schließlich Cuvier. Nach seiner Ausbildung verbrachte er in den 1790er Jahren einige Zeit als Hauslehrer in der Normandie und begann sich dort intensiv mit der Landschaft zu beschäftigen. Die Gegend ist Teil des Pariser Beckens, eines riesigen, fossilienreichen Sedimentbeckens. Auf Empfehlung kam er dann ans neu geschaffene Muséum national d'Histoire naturelle in Paris und machte schnell Karriere: Er wurde nicht nur Professor, sondern auch einer der Begründer der wissenschaftlichen Paläontologie und der vergleichenden Anatomie.
Ihm fiel auf, dass es im Pariser Becken unterschiedliche Gesteinsschichten gab und dass sich auch die Fossilien in diesen Schichten voneinander unterschieden. Zudem folgten Meeres- und Festlandsedimente aufeinander. In tieferen Schichten ähnelten die versteinerten Knochen dann immer weniger heutigen Lebensformen. Außerdem fand er Fossilien von elefantenähnlichen Tieren, die mit heute lebenden Spezies kaum etwas gemeinsam hatten. Wenn sie nicht doch irgendwo unbemerkt in der Welt umherstreiften, dann mussten sie ausgestorben sein.
Eine Katastrophe jagte die nächste
Cuvier suchte nach einer Erklärung und legte in den 1810er Jahren die erste wissenschaftliche Theorie des Aussterbens vor. Zunächst ging er davon aus, dass es immer wieder zu enormen Umbrüchen gekommen sein musste. Laut seiner Katastrophen- oder Kataklysmentheorie (»kataklysmos« ist griechisch für Überschwemmung) sei die Erde mehrfach in ihrer Geschichte überflutet worden. Er ging also davon aus, dass heute ausgestorbene Arten durch regelmäßige, katastrophale Überschwemmungen ausgelöscht wurden, wie der britische Paläontologe Martin Rudwick in seinem Buch »Georges Cuvier, Fossil Bones, and Geological Catastrophes« schreibt. In der Erdgeschichte wechselten sich gemäß Cuvier Zerstörung und Neubeginn immer wieder ab.
Nicht alle waren mit dieser Erklärung einverstanden. Denn wie ist diese Theorie mit der Bibel und der Schöpfungsgeschichte vereinbar? Eine große Überschwemmung könnte die in der Bibel beschriebene Sintflut gewesen sein, doch warum sollte Gott mehrfach seine Schöpfung vernichten, wie Cuvier behauptete? Seine Theorie stieß nicht nur in christlichen Kreisen auf Ablehnung. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich mit Darwins Evolutionstheorie die Idee einer graduellen, langsamen Veränderung der Tier- und Pflanzenwelt durch. Cuvier konnte eine solche Entwicklung beim besten Willen nicht erkennen. In den Sedimenten, die er untersuchte, tauchten Lebewesen auf und verschwanden wieder.
Woher aber kamen die neuen Arten? Eine ausgefeilte Theorie legte Cuvier dazu nicht vor. Er vermutete allerdings, dass sich nach einer Katastrophe Arten ausbreiten würden, die zuvor ein abgeschiedenes Nischenleben führten. Diese Spezies waren auch Teil der göttlichen Schöpfung, bekamen jedoch erst jetzt die Chance, sich weiter zu vermehren. Demnach wurden die vernichteten Lebewesen von anderen, neu zugewanderten Arten ersetzt.
Eine radikale These
Heute klingt es wohl nicht mehr so, aber Cuviers Gedanke war radikal: Er behauptete, dass es eine Welt vor der unsrigen gegeben hatte. Spätestens nachdem sich die Evolutionstheorie etabliert hatte, lehnten die meisten Forschungskollegen seine Katastrophentheorie allerdings ab. Sie sahen einen Widerspruch zwischen allmählichen und plötzlichen Veränderungen. Inzwischen sind beide Sichtweisen miteinander vereinbar: als Hintergrundsterben, womit das kontinuierliche, natürlich bedingte Verschwinden von Arten gemeint ist, und als Massenaussterben, das ein plötzlich oder schleichend eintretendes Ereignis darstellt, bei dem abertausende Arten von der Erdoberfläche gefegt werden. Sicher ist: Arten entwickeln sich fort. Und unabhängig davon kann es zu einem Massenaussterben kommen.
Zudem: Der Siegeszug der Säugetiere – und damit der Menschen – begann erst, nachdem die Dinosaurier verschwunden waren. Mit dem Menschen wuchs jedoch ein bislang unbekannter Faktor in der Erdgeschichte heran. Ein Wesen, das die Erde auf nie gekannte Weise umgestaltet.
Wir leben heute inmitten eines Massenaussterbens, dem sechsten Ereignis dieser Art. Wie nie zuvor gehen Tier- und Pflanzenarten rasend schnell verloren. Martha, die letzte Wandertaube Nordamerikas, und der Dodo auf Mauritius sind lediglich zwei von zig Spezies, die der Mensch durch sein Handeln ausgelöscht hat.
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