Freistetters Formelwelt: Im Rechten Winkel zur Realität
Ich kriege oft Post von Schülerinnen und Schülern, die an naturwissenschaftlichen Projekten arbeiten und Fragen dazu an mich haben. Drei Themen dominieren ihr Interesse: Das Terraforming des Mars, die Frage nach außerirdischem Leben und Paralleluniversen. Fragen also, die nicht nur in der Popkultur weit verbreitet sind, sondern durchaus auch eine wissenschaftliche Grundlage haben.
Mit Terraforming und Aliens kann man sich noch weitgehend ohne komplexe Mathematik beschäftigen; will man aber in die Tiefen der Paralleluniversen eindringen, geht das nicht mehr so einfach. Hier dreht sich alles um diese Formel:
Das ist die berühmte Schrödingergleichung – und sie im Detail zu erklären würde den Rahmen dieser Kolumne deutlich sprengen. Vereinfacht gesagt, beschreibt sie die zeitliche Veränderung des quantenmechanischen Zustands eines Systems. Seit der österreichische Physiker Erwin Schrödinger sie im Jahr 1926 das erste Mal aufgestellt hat, wird sie äußerst erfolgreich eingesetzt, um das Verhalten von Atomen, Molekülen und anderen Teilchen zu beschreiben. Sie ist das Fundament der Quantenmechanik, und aus ihr sind unzählige praktische Anwendungen erwachsen.
Trotzdem sind wir immer noch nicht absolut sicher, dass wir sie auch verstanden haben. Zentral für die Gleichung ist die so genannte »Wellenfunktion« (dargestellt durch das Symbol Ψ). Betrachtet man etwa ein Elektron aus quantenmechanischer Sicht, dann gibt seine Wellenfunktion die Wahrscheinlichkeit an, mit der man es bei einer Messung an einem bestimmten Ort finden kann. Vor der Messung ist der Aufenthaltsort unbestimmt; danach aber zu 100 Prozent sicher. Was dazwischen passiert nennt, man nach der »Kopenhagener Deutung« der Quantenmechanik den Kollaps der Wellenfunktion. Nur ist der eigentlich in Schrödingers Gleichung nicht vorgesehen.
Kollaps oder kein Kollaps?
Der Kollaps ist ein Postulat und folgt nicht aus der Mathematik. 1957 probierte der amerikanische Physiker Hugh Everett III daher, die Sache irgendwie logischer zu machen. Er entwickelte das Konzept der »relativen Zustände«. Demnach macht die Wellenfunktion genau das, was die Mathematik vorgibt. Sie kollabiert nie, und anstatt auf mysteriöse Weise bei einer Messung von einem Zustand in eine anderen zu wechseln, »verzweigt« sie sich.
Man hat nun mehrere überlagerte Wellenfunktionen, die alle möglichen Zustände beschreiben, zwischen denen es aber keine Wechselwirkung geben kann. Oder, um es im popkulturellen Kontext zu beschreiben: Es gibt viele parallele Welten die sich – in diesem Fall – nur durch den Aufenthaltsort des Elektrons voneinander unterscheiden.
»Messungen« im Sinne der Quantenmechanik müssen aber nicht konkrete Laborexperimente sein. Die Verzweigungen der Wellenfunktionen finden bei quasi jeder Wechselwirkung zwischen Objekten im Universum statt und erzeugen so eine parallele Welt nach der anderen. Deswegen nannte der theoretische Physiker Bryce DeWitt den Ansatz von Everett auch die »Viele-Welten-Interpretation« der Quantenmechanik. Nachweisen lässt sich die Existenz der anderen Welten aber nicht, und insofern ist es abseits der Mathematik schwer, vernünftig darüber nachzudenken. Oder, wie es der Physiker Werner Heisenberg recht treffend formuliert hat:
»Man muss hier daran denken, dass die menschliche Sprache ganz allgemein erlaubt, Sätze zu bilden, aus denen keine Konsequenzen gezogen werden können, die also eigentlich völlig inhaltsleer sind, obwohl sie eine Art von anschaulicher Vorstellung vermitteln. So führt zum Beispiel die Behauptung, dass es neben unserer Welt noch eine zweite gebe, mit der jedoch prinzipiell keinerlei Verbindung möglich sei, zu gar keiner Folgerung; trotzdem entsteht in unserer Phantasie bei dieser Behauptung eine Art von Bild.«
Aber eben ein sehr faszinierendes und hartnäckiges Bild…
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