Star-Bugs - die kleine-Tiere-Kolumne: Der zauberhafte Winzling im Schnee

2022 schlenderten Jan Haft und sein Filmteam durch den Bayerischen Wald. Sie hatten einen sonnigen Februartag genutzt, um Aufnahmen für die dreiteilige ARD-Naturdoku »Unsere Wälder« zu machen. Seit Tagen kletterten die Temperaturen damals tagsüber immer wieder über den Gefrierpunkt. Nur vereinzelt bedeckte noch Schnee die Lichtungen, vor allem dort, wo dicke Buchenstämme die wärmenden Sonnenstrahlen aufhielten. Auf dem Rückweg, bepackt mit Kameras, Stativen und Rucksäcken voller weiterer Technik, blieb dem Team Zeit, hier und da nach spannendem Getier Ausschau zu halten.
»Wenn der Schnee leicht antaut, dann krabbeln die Winterhafte aus ihren Verstecken«, sagt der Filmemacher Haft. An diesem Tag betrat ein einzelnes Weibchen das glitzernde Weiß. Auf Schnee fänden sich die potenziellen Partner einfacher als in den dichten Moospolstern, erzählt Haft und scherzt: »Die Insekten nutzen die Schneefläche als Winterhaft-Tinder.«
Menschliche Beobachter müssen allerdings auch im Schnee ganz genau hinschauen, um Winterhafte zu entdecken. Die Insekten sind gerade einmal vier Millimeter groß. Kopf und Rücken sind fast schwarz, während der Bauch, die sechs Beine und der lang gezogene »Schnabel« goldfarben glänzen. Zwischen den beiden dunkelbraunen Facettenaugen entspringen die langen, deutlich gegliederten Fühler. Ihre verlängerten Mundwerkzeuge verraten: Winterhafte gehören zu den Schnabelfliegen (Mecoptera). In Deutschland sind zwei Arten bekannt, Boreus hyemalis und Boreus westwoodi. Unterscheiden können sie wohl nur Insektenexperten; vielleicht ist auch deshalb für beide Arten der deutsche Name Winterhaft geläufig. Ihre Vorliebe für Gefrorenes hat ihnen außerdem die beiden Alias Gletschergast und Schneefloh eingebracht.

Während die meisten Insekten in den kühlen Wintermonaten ruhen, drehen Winterhafte zwischen Oktober und März erst richtig auf. Bis zu zwei Jahre verbringen sie als Larven in kleinen Erdlöchern zwischen immergrünen Moospflanzen. Im Gegensatz zu ihren etwas bekannteren Verwandten, den Aas fressenden Skorpionsfliegen, leben Winterhafte vegetarisch. Besonders gern knabbern sie ganzjährig verfügbare Moosblätter, etwa vom Zypressenschlafmoos (Hypnum cupressiforme) und vom schönen Frauenhaarmoos (Polytrichum formosum).
Im September verpuppen sich die Larven, um wenige Wochen später als ausgewachsene Insekten auf Partnersuche zu gehen. Dass sie das ausgerechnet auf Schneeflächen – und damit quasi auf dem Präsentierteller – machen, hat wohl auch einen praktischen Grund, vermuten Insektenforscher: Es sind kaum Fressfeinde unterwegs, die ihnen gefährlich werden könnten.
Perfekte Anpassung an den Winter
Die Insekten haben sich perfekt an ihre karge winterliche Umwelt angepasst. Mit ihrem dunklen Rücken sammeln sie effizient die spärliche Sonnenstrahlung. Sinken die Temperaturen unter null Grad Celsius, pumpen sie Frostschutzmittel durch ihren Körper: In den Wintermonaten ist der Gehalt an Trehalose und Glukose in der Hämolymphe besonders hoch. Die Zucker verhindern, dass das Insektenblut gefriert.
Ausgewachsene Winterhafte leben nur wenige Wochen. Nach der Paarung legt das Weibchen Eier in den sich langsam aufwärmenden Boden. An dem gewölbten Legerohr lassen sich die Geschlechter der Insekten unterscheiden. Und an den Flügelstummeln, denn die tragen nur die Männchen. Winterhafte können nicht fliegen. Alles, was sie brauchen, scheinen sie krabbelnd und hüpfend erreichen zu können.
Locker zehn Zentimeter weit können die Winzlinge springen und damit mehr als 25-mal weiter, als sie selbst lang sind – eine beachtliche Leistung. Zum Vergleich: Ein Graues Riesenkänguru ist von der Schwanz- zur Nasenspitze rund zwei Meter lang und schafft »nur« gut zehn Meter, also fünfmal seine Körperlänge. Im Gegensatz zu Flöhen nutzen Winterhafte für ihre Meistersprünge nicht nur ihre Hinterbeine, sondern zusätzlich das mittlere Beinpaar. Offenbar stabilisiert diese Vierfüßertaktik den Absprung zuverlässiger als die reine Hinterbeintechnik der Flöhe, vor allem auf einer weichen Fläche wie Schnee.
Kuriose Insekten
Es sind Kuriositäten wie der Winterhaft, die Jan Haft für kleine Tiere begeistern – auch wenn die winzigen Krabbler keinen so wohlklingenden Namen wie sein Namensvetter hätten, ergänzt der Filmemacher lachend. »Klar wusste ich, dass es winteraktive Insekten gibt«, sagt er. Viele Menschen kennen zum Beispiel Wintermücken, die ihren filigranen Tanz im Sonnenlicht selbst bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt aufführen.
Haft möchte außerdem weniger bekannte Tiere zeigen, möchte laut in die Welt hinausrufen: »Seht her, wie krass Insekten sind.« Er freut sich, wenn auf Instagram Menschen auf sein Winterhaftbild reagieren, auf »die merkwürdige Abzweigung der Evolution«, wie er das Insekt nennt, und es liken oder darunter kommentieren.
Ein Plädoyer für die Insekten
In seiner Filmreihe »Unsere Wälder« hat er Insekten wieder zahlreiche Szenen gewidmet, etwa Mistkäfern, die Dung wegräumen, oder Pilzmücken, die ihr gesamtes Larvendasein in einem Baumpilz verbringen, der an kranken und abgestorbenen Buchen wächst. Seine Produktionsfirma Nautilusfilm bot mit der Naturdoku »Biene Majas wilde Schwestern« auch schon heimischen Wildbienen eine Bühne oder erzählte »Die Geschichte vom orangeroten Heufalter« (Colias myrmidone), der seit 2001 in Deutschland als ausgestorben gilt.
»Natürlich brauchen wir in unseren Landschaften auch die großen Tiere«, sagt Haft, der sich selbst Aktivist und Naturschützer nennt. Als Beispiele nennt er Wisente und Rinder; sie halten Flächen offen und schaffen neuen Lebensraum. »Aber die Kleinen sind doch nicht minder faszinierend.« Und bekanntermaßen sei ihre Funktion in vielen Ökosystemen ebenso relevant, wenn nicht sogar wichtiger. Selbst vor der eigenen Haustür gebe es unter den Winzlingen noch so viel zu entdecken, sagt Haft. Zum Beispiel ein Insekt wie den Winterhaft.
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