Die fabelhafte Welt der Mathematik: Warum die Bahn immer zu spät kommt
Der öffentliche Nahverkehr hat mich schon oft in den Wahnsinn getrieben. Um zur »Spektrum«-Redaktion zu kommen, bin ich auf Bus und Bahn angewiesen. An der Haltestelle in der Nähe meiner Wohnung sollte eigentlich im Zehn-Minuten-Takt ein Bus abfahren, doch fast immer, wenn ich an die Haltestelle komme, muss ich mindestens sieben oder acht Minuten lang warten. Aber daran sind nicht die Busbetreiber schuld – die Busse fahren im Mittel wohl tatsächlich alle zehn Minuten ab. In Wirklichkeit kommt ein kaum bekannter statistischer Effekt zum Tragen: das Inspektionsparadoxon.
Angenommen, Sie möchten vom Hauptbahnhof in Frankfurt zum Bahnhof Süd fahren und nehmen für die Strecke eine Straßenbahn. Laut Google fährt die betreffende Linie im Schnitt alle zehn Minuten. Demnach könnte man erwarten, dass Sie im Mittel fünfeinhalb Minuten warten müssen, bis die Straßenbahn kommt, wenn Sie zu einem zufälligen Zeitpunkt zum Hauptbahnhof gehen. Doch Sie kennen wahrscheinlich das Gefühl, dass ausgerechnet in Ihrem Fall die Wartezeit länger ist. Und falls Sie sich mit anderen Personen unterhalten, werden die Ihnen vermutlich dasselbe schildern: Auch sie haben das Gefühl, überdurchschnittlich lange auf das Eintreffen einer Bahn warten zu müssen.
Offenbar scheinen alle vom Pech verfolgt und treffen immer dann an der Haltestelle ein, wenn die Wartezeit am längsten ist. Woran liegt das? Zunächst einmal könnte die Angabe falsch sein, dass die Straßenbahn alle zehn Minuten verkehrt. Diese Information stammt allerdings von der Firma Google, die die Daten statistisch ermittelt hat – deshalb sollte die Angabe korrekt sein. Woran liegt es dann, dass offenbar alle Personen durchschnittlich länger warten? Natürlich lässt sich das als subjektives Empfinden abtun. Es steckt jedoch mehr als nur eine psychologische Komponente hinter dem Phänomen. Denn im Mittel warten die meisten Personen wirklich länger als fünfeinhalb Minuten auf die Straßenbahn.
Der Grund dafür ist, dass die Bahnen zwar durchschnittlich alle zehn Minuten abfahren, aber in der Realität meist nicht regelmäßig im Zehn-Minuten-Takt verkehren. Mal kommen zwei Bahnen fast gleichzeitig an, mal muss man 15 Minuten warten, bis die nächste Straßenbahn kommt. Wenn Sie zu einem zufälligen Zeitpunkt am Frankfurter Hauptbahnhof zum Gleis gehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Sie in einem langen Wartezeitintervall eintreffen – einfach, weil das Intervall größer ist.
Würde man eine Studie machen und 100 Pendlerinnen und Pendler bitten, ihre Wartezeit für besagte Strecke zu notieren, käme man im Mittel also nicht auf ein Ergebnis von fünfeinhalb Minuten. Denn falls die Personen zu einem zufälligen Zeitpunkt am Hauptbahnhof eintreffen, werden mehr der Befragten ein langes Zeitintervall erwischen und damit durchschnittlich länger auf die nächste Bahn warten. Das lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Angenommen, jede Minute trifft einer der 100 Probanden am Hauptbahnhof ein. Die Straßenbahnen fahren im Schnitt zwar alle zehn Minuten, doch während der untersuchten 100 Minuten treffen fünf Bahnen nach bloß fünf Minuten Wartezeit und fünf Bahnen nach 15 Minuten ein.
Eine Person, die während eines 15-Minuten-Intervalls am Hauptbahnhof eintrifft, muss daher entweder 15, 14, 13, …, 2 oder 1 Minute warten. Da wir annehmen, dass die Pendler im Minutentakt auftauchen, gibt es also je fünf Personen, die die Maximalzeit von 15 Minuten auf sich nehmen müssen, je fünf, die 14 Minuten warten, und so weiter. Insgesamt treffen 75 Probandinnen und Probanden in einem langen Zeitintervall am Bahnhof ein. Die 25 anderen haben Glück und müssen maximal fünf Minuten warten. Rechnet man die Wartezeiten der einzelnen Personen zusammen, ergibt sich: 5·(15 + 14 + … + 2 + 1) + 5·(5 + 4+ … + 1) = 675. Dividiert man das Ergebnis durch die 100 Personen, dann hat jeder Pendler durchschnittlich 6,75 Minuten gewartet. Das ist länger, als wenn die Bahn in regelmäßigen Zehn-Minuten-Abständen eingetroffen wäre, denn dann hätte jede Person im Mittel bloß 10·(10 + 9 + … + 2 + 1)/100 = 5,5 Minuten gewartet. Damit wirkt es für die Personen, die in die unregelmäßigen Zeitintervalle geraten, als würde die Straßenbahn seltener fahren als im Zehn-Minuten-Takt.
Was ist die durchschnittliche Größe eines Kurses?
Tatsächlich tritt das Inspektionsparadoxon in allerlei Situationen auf. Am einfachsten lässt es sich verstehen, wenn man Studierende eines Jahrgangs nach ihrer durchschnittlichen Kursgröße befragt. Das Ergebnis wird dabei häufig größer ausfallen als die tatsächliche mittlere Kursgröße. Der Grund dafür ist nicht, dass die Studierenden lügen oder sich irren. Stattdessen tauchen die Personen, die zusammen in großen Kursen sitzen, häufig in der Umfrage auf und verzerren dadurch das Ergebnis.
Angenommen, die befragten Studierenden haben jeweils nur eine Veranstaltung. 80 Personen sitzen zusammen in einer großen Vorlesung, 10 Studierende besuchen gemeinsam einen kleinen Kurs, und es gibt noch zwei Seminare, in denen nur je 5 Teilnehmer sitzen. Die durchschnittliche Kursgröße beträgt dann (80 + 10 + 5 + 5)/4 = 25. Wenn man die 100 Studierenden aber befragt, werden 80 Personen antworten, in einem Kurs mit 80 Leuten zu sitzen, 10 in einem Kurs mit 10, und je zweimal werden fünf Personen angeben, in einer kleinen Veranstaltung mit bloß 5 Personen zu sein. Wertet man die Antworten aus, erhält man also (80·80 + 10·10 + 2·5·5)/100 = 65,5. Durchschnittlich sitzen die Studierenden also in einem Kurs mit 65,5 Personen – auch wenn die mittlere Kursgröße nur 25 beträgt.
Tatsächlich handelt es sich beim Inspektionsparadoxon – wie so oft in der Wissenschaft – nicht wirklich um ein Paradoxon. Die Zahlen widersprechen sich nämlich nicht, sondern sind Antworten auf zwei unterschiedliche Fragen: Einerseits ermittelt man die durchschnittliche Kursgröße, indem man über alle Kurse mittelt; andererseits mittelt man darüber, wie viele Personen durchschnittlich zusammen in einer Veranstaltung sitzen. Daher kommt auch der Name des Paradoxons: Durch die Befragung erhält man unter Umständen die Antwort auf eine andere Frage.
Warum sind andere beliebter als ich?
Ein weiteres Beispiel für das Inspektionsparadoxon hat mit der eigenen Beliebtheit zu tun. Als der Soziologe Scott Feld 1991 soziale Beziehungen untersuchte, fiel ihm auf, dass die Freunde einer Person im Durchschnitt beliebter sind als die Person selbst. Das wurde in der Literatur als »Freundschaftsparadoxon« bekannt und stellt einen Spezialfall des Inspektionsparadoxons dar.
In der heutigen Zeit lässt sich das gut überprüfen, indem man zum Beispiel die Social-Media-Kontakte einer zufällig gewählten Person untersucht. Im Mittel wird diese Person durchschnittlich viele Kontakte haben (da sie ja zufällig gewählt wurde). Betrachtet man die mit ihr in Verbindung stehenden Nutzer, ergibt sich ein anderes Bild: Die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass diese zahlreiche Verbindungen haben. Denn gut vernetzte Personen tauchen als Freunde vieler verschiedener User auf und sind damit überrepräsentiert. Das hat der Informatiker Allen Downey anhand eines Datensatzes getestet, der 4039 Facebook-User und ihre Verbindungen untereinander umfasst. Wie er herausfand, hat ein zufällig gewählter Nutzer durchschnittlich 44 Freunde, während seine Freunde im Mittel 104 Vernetzungen aufweisen.
Ein anderes Beispiel für das Inspektionsparadoxon ist die Lebenserwartung der Bürger und Bürgerinnen eines Staats. Ordnet man die Länder weltweit nach der Lebenserwartung der Einwohner, besetzen Monaco und Singapur die ersten beiden Plätze mit 89,6 Jahren (Monaco) und 86,5 Jahren (Singapur). Einer der entscheidenden Faktoren ist sicherlich, dass beide Staaten eine gute Gesundheitsversorgung besitzen. Doch ein weiterer Grund ist, dass Singapur und Monaco Einwandererländer sind. In Singapur sind 43,1 Prozent der Bevölkerung in einem anderen Land geboren, in Monaco sind es sogar 67,8 Prozent. Da es sich bei Singapur oft um Gastarbeiter handelt, wandern die Personen meist im erwachsenen Alter ein – und erhöhen damit die Lebenserwartung des Landes. Denn falls die Einwanderer beispielsweise mindestens 20 Jahre alt sind, dann gibt es unter ihnen keine, die in jüngeren Jahren in Singapur sterben. Das ist bei der dort geborenen Bevölkerung anders – hier kann es durchaus in jungen Jahren zu Todesfällen kommen.
Das Inspektionsparadoxon tritt auch auf, wenn man sich über Berichte wundert, dass viele Flugzeuge fast leer unterwegs sind und kaum Passagiere befördern. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich in einem Flugzeug sitze, ist meist so gut wie jeder Sitz ausgebucht. Und auch die Erfahrung meiner Freunde zeigt, dass die Maschinen eigentlich immer voll sind. Doch wieder gilt: Weil fast leere Flugzeuge nur wenige Leute befördern, gibt es auch nur wenige Personen, die so etwas bezeugen können. Die Leute, die unter vollen Flügen leiden, sind schlicht in der Mehrzahl.
Wenn Sie also das nächste Mal das Gefühl haben, vom Unglück verfolgt zu sein – sei es wegen vollen Fliegern, verspäteten Zügen oder überfüllten Kursen –, dann tröstet Sie vielleicht der Gedanke: Sie sind damit keineswegs allein, sondern es geht fast allen so. Das sagt zumindest die Statistik.
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